OCR
Und die Quote für Österreich war schon erreicht, auf drei Jahre im voraus, sagten sie. Und die Warteliste wurde immer länger! Das war keine so berühmte Geographiestunde, die Vertretungen verschiedener Republiken und Königreiche aufsuchen. Den einen Vormittag stellte ich mich beispielsweise vor der Bundesrepublik Brasilien an. Am Nachmittag erledigte ich dann das Königreich Siam und die Sowjetunion. Am nächsten Tag versuchte ich es bei den Estados Unidos de Mexico, Liberia und bei dem stummen Torwächter vor dem Konsulat des Kaisers von Abessinien. Ein anderes Mal käme König Zogus Albanien dran, Tibet und das verriegelte Tor der Botschaft seiner Königlichen Hoheit, des Herrschers des Persischen Reichs.“ Wir haben uns mittlerweile der Schweizerischen Grenze bis auf wenige Kilometer genähert. In Nauders angekommen, lassen wir das Auto an der Norberthöhe stehen. Der Aufstieg kann beginnen. Der Weg bis zur Grenze ist noch mäßig steil, ein Hohlweg führt zuerst noch durch Wiesen und Felder, bis wir dann, weiter oben, in den dichten Wald kommen. Fred redete noch immer nicht viel. Vielleicht, denke ich mir, macht ihm der Aufstieg zu schaffen. Nach etwa einer Stunde Wanderung lichtet sich plötzlich das Unterholz, wir stehen auf einem Streifen abgeholzten Waldes. Die Grenze. Und fast um uns von jedem Zweifel zu befreien, steht da noch der Grenzstein. Auf der einen Seite ein Ö, auf der anderen ein CH und an der Seite die Jahreszahl 1937. Im Jahr 1937, geht mir durch den Kopf, hätte Fred Plisner noch nicht den Weg über die Berge nehmen müssen, er wäre überhaupt nicht auf die Idee gekommen, die Grenzen zu überschreiten, in die Schweiz zu reisen. Damals, 1937, war die Schweiz noch nicht so wichtig. Immerhin hatte Fred schon als Kind im Wien der zwanziger Jahre davon geträumt, die Nachbarländer wieder einzuverleiben. Er hatte das kleine Österreich zu dem gemacht, was es einmal war: ein großes Reich: „Ich misshandelte den Atlas meines Vaters, indem ich die Grenzen mit Bleistiftlinien verbesserte und einen großen Brocken Norditalien dazunahm und dann Budapest in unseren Schoß zurückführte. In einem Moment verleibte ich Österreich die östliche Schweiz ein, im nächsten annektierte ich Böhmen und Schlesien, einen Tag zog ich nach Norden und am folgenden vielleicht nach Westen.“ Den Grenzübergang nahe am Dreiländereck Österreich-ItalienSchweiz hatte Plisner sich im August 1938 deshalb ausgesucht, weil er gehört hatte, dass an der Vorarlberger Grenze zur Schweiz immer öfter Flüchtlinge zurückgeschickt wurden. Hier, weiter oben im Gebirge, wo auf wenigen Kilometern Tirol an die Schweiz grenzt, war die „grüne Grenze“ ungleich schwieriger zu überschreiten und dementsprechend weniger gesichert. Die Route hatte er sich bereits in Wien auf einer Karte zurechtgelegt. Und dann war er losgefahren: „In der Wanderkluft von 1938 — Lederhosen, Nagelschuhe, Ruchsack und Mandoline - brach ich vom Wiener Westbahnhof ins Unbekannte auf, bebend vor Herzklopfen und achtzehn Jahre.“ Die grüne Grenze. Weit und breit ist niemand von der Zollwache zu schen. Unser Blick folgt der endlos langen, schmalen Schneise, die sich durchs steile Gelände zieht. Und in der Schneise alle paar hundert Meter ein Grenzstein. Wie damals die Grenze, diese fast unsichtbare Linie, die zwischen Leben und Tod entscheiden konnte, wohl ausgeschen haben mag? Ich bin plötzlich ein wenig aufgeregt. Hier also war Fred vor 60 Jahren in die Schweiz gelangt, hier hatte er seine Heimat hinter sich gelassen, um in Sicherheit zu gelangen. Sein Vater und viele seiner Verwandten hatten es nicht mehr geschafft. Und jahrelang war er nicht zurückgekommen, in dieses Österreich, das „die alte Alliteration Grüß Gott durch eine andere ersetzt hatte: Heil Hitler“. Immer noch ist Fred sehr wortkarg. Es ist fast so, als ob ihm in unmittelbarer Nähe der Grenze die Macht der Sprache verlassen hätte. Worüber er wohl nachdachte? „Alles verlief nach Plan, und als ich ins Grenzgebiet kam, gab es keine Überraschungen. Noch vor dem Zollhaus überquerte ich den Fluss und schlenderte gemächlich auf der höher gelegenen Ebene entlang, von wo ich die Hauptstraße und das Grenzgebäude übersehen konnte. Das Terrain war uneben, teils bewaldet, teils mit Felsbrocken übersät, und ich hielt respektvoll Abstand von Grenze und Fluss, ohne sie jedoch aus den Augen zu verlieren. Die Sonne ging gerade unter, da erreichte ich die Gegend, wo nach meiner Karte die nicht markierte Grenze auf meiner Seite des Inns verlaufen musste.“ Da passierte es: „Ich war in eine Schlucht gelangt, in die im Frühling Ströme von Schmelzwasser herabstürzen. Als ich mir da einen Weg suchen wollte, kam ich Mai2012 9