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nicht mehr weiter. Ich saß fest.“ Es wurde dunkel und Plisner ist gezwungen, inmitten der Schlucht die Nacht zu verbringen. Hatte er die Grenze bereits überschritten oder ist er noch in Gefahr? Sechzig Jahre danach, fast genau an derselben Stelle, erzählt Fred Plisner nicht von dieser ungewissen Nacht. Er kommt nicht zurück auf den Augenblick, als für ihn die Waage zwischen Verfolgung und Freiheit noch die Balance der Ungewissheit anzeigte. Statt dessen nimmt es seine kleine Kamera heraus, kniet plötzlich nieder und beginnt, liegend, Bergblumen zu fotografieren. Eine Küchenschelle da, eine Bergprimel dort. Fred ist fasziniert von der Vielfalt der Blumen. Die Grenze und die Blumen. Was haben sie in seiner Erinnerung wohl miteinander gemeinsam? Innerhalb kürzester Zeit knipst er den ganzen Film voll. Nach einer kurzen Rast wandern wir weiter. Das Gelände wird unübersichtlich und steil. Fred, ausgerüstet mit Turnschuhen, hat Mühe, aufrecht am Hang zu stehen. Und er beginnt, schwer zu atmen. Aber nach einigen hundert Metern taucht endlich wieder ein schmaler Steig auf, der Weg beginnt sich abwärts zu neigen. Wir atmen auf. Wir sind auf der Schweizer Seite angelangt. Auf jener Seite der Grenze, die damals Sicherheit versprach. In langen Schritten bewegen wir uns dem Tal zu. „Wie immer in solchen komplizierten und furchteinflößenden Situationen wecken Morgenschleier und Morgenfarben wieder Mut und Lebenskraft. Der Alptraum der vergangenen Nacht war geschwunden. Ich ließ mich weiter die Schlucht hinunter, die freie Bahn zum Fluss bot. Die prächtigen alten österreichischen Lederhosen machten sich gut, um mehrere hundert Meter über scharfen Schotter und Gestein damit herunterzurutschen. Man sagt, sie hielten über Generationen, und die Leute seien stolz auf das Alter ihrer Hosen, das man am zunehmenden Glanz und der dunkleren Färbung erkennt.“ Und Plisner fügt hinzu: „Ängstlich gelangte ich an dem Nachmittag nach Schuls, Schuls-TaraspVulpera, um den vollständigen dreifältigen Namen zu nennen.“ Auch wir sind inzwischen in Schuls, dem ersten Ort nach der Grenze, angekommen. Nach und nach taut Fred auf. Damals, als er endlich in Sicherheit war, brauchte er Hilfe. „Ich brauchte einfach jemand, der mir die Last der Entscheidung abnahm. Über die Grenze gehen, war leicht gewesen im Vergleich dazu. Was ich brauchte, war eine väterliche Umarmung.“ Und er fand sie, ironisch genug, zuerst im Amtsitz der Polzei, beim alten Landjäger. Dieser gab ihm zum Essen und verschaffte ihm eine Unterkunft im einzigen Gasthaus des Ortes. Dieses Haus des Landjägers will er nun um jeden Preis wieder finden. Damals war es jener Ort gewesen, an dem er erstmals wieder offen und frei reden konnte, ohne Angst haben zu müssen, verraten zu werden. Plötzlich wird Fred gesprächig. Er beginnt, Leute auf der Straße anzureden, er Isaak Malach a NEE a : x u Grenzstein, aufgestellt im Jahr 1937. Foto: A. Holzer fragt nach der Tischlerei, die damals gleich neben dem Sitz der Polizeistation gewesen war. Jene Tischlerei, die durchs Fenster einen herrlichen Ausblick auf die Bergkette des Engadin freigab. Die jungen Leute können sich nicht erinnern, die ältern widersprechen einander öfters. Wir irren von einem Ende des Dorfes zum anderen. Fragen und suchen. Viel hat sich in sechzig Jahren in Schuls geändert, die Polizeistation ist längst verlegt worden. Nach und nach aber kommt Fred dem Haus, das ihm, dem 18jährigen Flüchtling im Jahre 1938, die erste Zuflucht geboten hatte, auf die Spur. Eine ältere Frau, auf einen Stock gestützt, beginnt sich zu erinnern. Ja, meint sie bedächtig, nun könne sie sich erinnern, das muss es sein. Es sicht zwar ein wenig anders aus als damals, aber das muss es sein. Und auch Fred erkennt es wieder, das Haus des Landjägers. Er zieht seinen Fotoapparat heraus und will noch ein Bild machen, vom Haus und von der älteren Frau mit dem Stock, die ihm den Hinweis gegeben hat. Aber der Film ist voll. Er hatte ihn für die Bergblumen aufgebraucht. Jetzt erst beginnt Fred zu erzählen. Die Geschichte, die 1938, hier an der Grenze, eigentlich erst seinen Ausgang genommen hatte und die er dann, über fünf Jahrzehnte später, aufzuschreiben begann, unter dem Titel: Die Lust der Schwerkraft. Roman eines Lebens. Als mir Fred nach einiger Zeit von Cambridge aus Fotos schickte, war ich überrascht. Die Bilder mit den Bergblumen waren alle in schwarz-weiß. Und dabei hätte er sie so gerne in Farbe gehabt. Fred hatte den falschen Film eingelegt. Vielleicht, denke ich mir, erträgt die Erinnerung an diese Zeit die Farbe nicht. Anton Holzer, geb. 1964 in Südtirol, Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und Philosophie in Innsbruck und Wien, Fotohistoriker, Publizist und Ausstellungskurator, Herausgeber der Zeitschrift „Fotogeschichte“. Lebt in Wien. Kundschafter, Agent, Spion — verschiedene Bezeichnungen für einen seltenen und ungewöhnlichen Beruf. Kinder, die Bücher über Agenten lesen und Filme über Spione schen, sind von diesem Beruf vielleicht fasziniert und träumen davon, Agenten zu werden, wenn sie einmal groß sind — wie Richard Sorge, Nikolaj Kusnezov, Schandor Radov, Lew Manewitsch oder frei erfundene SS-Oberst Stirlitz der sowjetischen Fernsehserie. 10 ZWISCHENWELT Der Mensch, der in einem fremden Land als Agent tätig wird, stirbt und steht als eine ganz andere Person wieder auf. Er verliert auf lange Zeit, manchmal für immer die Beziehungen zu seiner Familie, seinen Freunden, seinen Landsleuten. Er muß sich völlig umstellen, den Namen ändern, manchmal sein Äußeres, die Sprache, seine Biografie und seine gewohnte Lebensweise. Um ein erfolgreicher Spion zu werden, muss man viel wissen und