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Peter Roessler Über Siglinde Bolbecher und ihre vier großen Verdienste Laudatio zur Verleihung des Goldenen Ehrenzeichens für Verdienste um die Republik Österreich, welches Siglinde Bolbecher am 21. März 2012 von Nationalratsprisidentin Barbara Prammer im österreichischen Parlament feierlich tibergeben wurde. Gäbe es eine Laudatio der unbegrenzten Möglichkeiten, dann könnte ich mir statt einer Rede Folgendes vorstellen: Ich liefere einige Fragen und Siglinde erzählt — die Erzählungen brächten uns alle zum Nachdenken und zum Lachen, sie wären so anschaulich, dass Siglinde und ich, angetrieben von der unersättlichen Neugier des Publikums, den ganzen Tag in Anspruch nehmen müssten. Da ein Tag aber nicht ausreicht, würden wir alle wochenlang im Parlament verbringen, vielleicht auch noch andere Orte einbeziehen, das kleine Büro der Theodor Kramer Gesellschaft, und sicher so manches Gasthaus. Das Ganze würde sich zu einem riesigen Symposion weiten, denn Siglinde würde auch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auffordern, zu erzählen. Vermutlich würde sie zu diesem Symposion, dessen Themen unversehens wechseln würden, öfter zu spät kommen. Sie würde es nämlich — wie häufig — nicht nur organisieren, nicht nur für Essen, Kaffee und Wein sorgen, sondern müsste auch ständig neue Erzählerinnen und Erzähler vom Flughafen abholen — aus Großbritannien, den USA, Israel und Lateinamerika. Es würde ohne Manuskript gesprochen, denn Siglinde wäre mit ihrem Vortrag ohnehin nicht fertig geworden; sie müsste zudem allen anderen bei der Vorbereitung ihrer Redebeiträge helfen. Die Gespräche zwischen den Leuten, die Siglinde unermüdlich miteinander bekannt machen könnte, würden durch sie auf wundersame Weise gefördert werden, die Sprechkunst von Konstantin Kaiser brächte noch weitere Bewegung und Streitlust in die Veranstaltung, und an den Wänden würden die Bilder hängen, die Siglinde so liebt und über die alle ebenfalls sprechen möchten — Bilder von Leander Kaiser, Hildegard Stöger und Olivia Kaiser. Da diese Laudatio hier jedoch leider begrenzte Möglichkeiten hat, werde ich Ihnen nur eine Abstraktion dieser vielgestaltigen Großveranstaltung bieten, die Siglinde ohnehin nicht zulassen würde. Aber diese Abstraktion versuche ich jetzt als jemand, der seit ungefähr dreißig Jahren in den Genuss der vielen Erzählungen, der Klugheit, des Wissens und der unvergleichlichen Menschenfreundlichkeit von Siglinde kommt. Übrigens sind wir beide in der selben Straße, und noch dazu in benachbarten Häusern, Se. WN deren Gärten aneinander grenzen, aufgewachsen, müssen uns also bereits in jüngeren Jahren gesehen haben oder sogar aneinander vorbeigelaufen sein. Meine Autorität als Redner möchte ich allerdings weniger von der Iheresianumgasse auf der Wieden ableiten — eher will ich mich doch auf die Kenntnis der enormen Arbeit von Siglinde Bolbecher berufen, die sich auf viele Orte bezicht. Diese großartige Lebensarbeit hat ein Zentrum, die Erforschung der österreichischen Exilliteratur, und alle hier wissen um die Bedeutung des Ihemas sowie um die Bedeutung von Siglindes Arbeit. Sie hat nicht nur — wie es in der Sprache der Absicherung heißt — einen Beitrag zu diesem Thema geliefert, sondern sie ist mit diesem Thema verbunden, sie hat es — ohne karrieristisches Berufskalkiil — mitentdeckt, gestaltet und vermittelt. Gemeinsam mit ihrem Mann Konstantin Kaiser lebt sie uns seit Jahrzehnten mit ihrer ganzen Existenz diese einzigartige Einheit von materialreicher Pionierarbeit und kluger Reflexion vor, ein Geist, der viele beeinHusst, viele angezogen hat und sich gleichsam in einer Institution materialisieren konnte, nämlich der’Iheodor Kramer Gesellschaft. Siglinde Bolbecher hat, als Mitbegründerin und langjährige Stellvertretende Vorsitzende der Iheodor Kramer Gesellschaft, dieses weite und feine Gewebe von Menschen, die sich der Erforschung der österreichischen Exilliteratur und damit wesentlichen aktuellen Fragen widmen, ermöglicht und entscheidend geformt. Und schon wäre man wieder bei der Geschichte einer Unternehmung und würde von anderen erzählen. Denn, obwohl die Arbeit von Siglinde Bolbecher so unverkennbar persönlich ist, hat sie stets doch diesen Zug ins Überpersönliche, bei dem so viele einbezogen und unterstützt werden. Ich mache daher wieder einen kleinen Umweg, um einige Besonderheiten ihrer Arbeit näher zu beleuchten, und greife dabei aufein überschaubares Projekt aus der Frühgeschichte ihrer Forschungen zurück, bei dem aus heutiger Sicht, wie in kleinen Szenen, bereits manche Merkmale der späteren großen Leistungen erkennbar werden, über die ich selbstverständlich auch noch sprechen werde: Im Jahr 1985 fand im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes — einer Institution, der Siglinde besonders verbunden ist und der sie angehört — die von ihr und Konstantin Kaiser initiierte Ausstellung „Kabarett und Satire im Widerstand 1933-1945“ statt, die von einem gleichnamigen Symposion am Renner-Institut begleitet wurde. Siglinde hat davon öfter öffentlich erzählt, auch in ihrer Rede anlässlich der 25-Jahr-Feier der | Foto: Parlamentsdirektion/Bildagentur Zolles KG/Mike Ranz 14 ZWISCHENWELT