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"Iheodor Kramer Gesellschaft hier im Parlament. Sie hat dabei stets von der Gruppe erzählt, der — neben Siglinde und Konstantin — auch Erna Wipplinger, Herbert Staud, Gerhard Scheit und ich angehörten. Ich aber will mich hier revanchieren und einmal von Siglinde und der Ausstellung erzählen. Von den vielen Aspekten, die sich anböten, hebe ich nur drei hervor: Zunächst: Siglinde hatte - neben den konzeptionellen und gestalterischen Aufgaben — noch die umfangreiche Recherche zu den Fotografien und Abbildungen übernommen und uns ständig dazu angehalten, die Texte mit den Bildern zu verbinden. Weiters: Siglinde schrieb ihren Katalog-Beitrag über den „Flüsterwitz“ unter dem Austrofaschismus und dem NS-Regime. In diesem Aufsatz, aus dem es uns entgegenlacht und der uns zum Lachen bringt, hatte sie die Thematik des Witzes mit der Frage nach dem Alltag und der Ideologie verknüpft, aber auch die Grenzen des Witzes angesichts des Holocaust benannt. Und schließlich: Siglinde hatte Kontakt zu Stella Kadmon aufgenommen, mit ihr ein langes Interview geführt, das sie uns immer wieder vorspielte, sodass unsere Arbeit von den Erzählungen Stella Kadmons gleichsam begleitet und korrigiert wurde. Einigen von uns — und dazu gehörte ich —, die auch in der Kleinkunst zuerst auf die großen Männer blickten, hat Siglinde nachdrücklich die Bedeutung jener mutigen Theaterleiterin und Regisseurin nahe gebracht, deren künstlerisches Wirken stets politisch war, von der Kleinkunstbühne „Der liebe Augustin“ ab 1931, über das Exilkabarett und -theater in Palästina bis zu den Jahrzehnten des Theaters der Courage. Unter den vielen Akteuren und Zeugen der Kleinkunstbühnen, des Exilkabaretts und Exiltheaters, mit denen man damals noch sprechen konnte und die wir zu unseren Veranstaltungen eingeladen haben (Rudolf Spitz, Peter Herz, Otto Tausig) hat Siglinde — was nicht selbstverständlich war — Stella Kadmon ebenso wie der Schauspielerin Gerda Weys die ihnen gebührende Aufmerksamkeit verschafft und uns das Erlebnis beschert, den Erzählungen dieser Frauen zuhören zu können. In den intensiven Wochen und Monaten, da wir an dieser Ausstellung arbeiteten, viel lachten und ein wenig stritten, erzählte Siglinde auch einige Geschichten aus ihrem Leben, und ich habe in der Vorbereitung zu dieser Rede sie nochmals danach gefragt, um dann stundenlang zuzuhören. Vom Vater her, der in Wien eine Weinhandlung betrieb, entstammt Siglinde einer deutschsprachigen Banater Familie, die aus Jugoslawien vertrieben worden war, ohne dass dieses Erlebnis in Ranküne oder Revanchismus geführt hätte. So konnte diese Erfahrung für Siglinde zu einer Grundlage des Verständnisses für die vom Nationalsozialismus Verfolgten werden, ebenso wie die Erinnerungen an die zahlreichen Freundschaften des Vaters mit jüdischen Vertriebenen und Verfolgten. Die Mutter führte unter anderem ihr Gasthaus am Naschmarkt, es trug seinen Namen aus dem letzten Jahr des Ersten Weltkriegs und hieß „Zur eisernen Zeit“. Siglinde hat in diesem Gasthaus seit ihrem 13. Lebensjahr bis 1982 ausgeholfen, mitgearbeitet, später oft 20 Stunden in der Woche, neben der Schule, neben ihrem Studium, neben ihrer Beteiligung an der Schülerbewegung und ihrem politischen Engagement als Studentin, neben dem Probejahr als Lehrerin. Auch die erzählten Erfahrungen dieser Zeit geben andere Bilder als sie gewöhnlich in den gängigen Wiener Legenden auftauchen: Etwa vom Fleischhauer Gruber, der vom Krieg noch eine Kugel im Rücken hatte, und der seinen Hass auf Hitler so ausdrückte, dass er auf den Wirtshaustisch sprang, einen Sessel in die Höhe hielt und die Nazis verhöhnte. i _— | Siglinde Bolbecher und Barbara Pramer. Foto: Parlamentsdirektion/Bildagentur Zolles KG/Mike Ranz Siglindes gesprochene Geschichten tiber Menschen vermitteln stets das Gefiihl, man ware dabei gewesen. Ich glaube, dass der biographische Zugang ein wesentliches Charakteristikum der vielfaltigen und vielschichtigen wissenschaftlichen Arbeit von Siglinde Bolbecher ist. Und zwar in doppelter Hinsicht: Einmal, da sie — so meine ich zu erkennen — nicht von ihrer eigenen Biographie absieht, und ihre Forschungen nicht mit jener fachnormierten Distanz betreibt, die im wissenschaftlichen Getriebe als Objektivitat verklart wird und sich nur dazu eignet, ein Gehege der Gemütlichkeit zu errichten oder den eigenen Aufstieg zu organisieren. Und dann, weil sie die Erforschung der Exilliteratur mit dem intensiven Interesse an den Lebensverhältnissen der Exilantinnen und Exilanten, an den Lebensgeschichten verbindet. Nicht zufällig hat Siglinde Bolbecher ihr Studium der Geschichte und Philosophie mit einer Hausarbeit über frühe Arbeiterautobiographien abgeschlossen - eine der vielen Pionierarbeiten von ihr. Damit bin ich nun bei jenen großen Leistungen angelangt, für die Siglinde Bolbecher heute die Auszeichnung erhält. Sie kommen uns in diesem Kreis oft schon selbstverständlich vor, so sehr brauchen wir sie, aber etwas verfremdet betrachtet, muss es uns wohl unglaublich erscheinen, wie das alles unter schwierigen Bedingungen, das heißt vor allem gegen allerlei politische und ökonomische Widerstände zustandegekommen ist. Es ist nicht dem fragwürdigen Genre der Laudatio geschuldet, wenn ich diese Arbeiten als epochal bezeichnen möchte und auch festhalten muss, dass sie noch viel zu wenig Anerkennung gefunden haben, denn es liegen hier Ergebnisse vor, ohne deren Berücksichtigung künftig über österreichische Literatur und Geschichte gar nicht mehr vernünftig geschrieben und gesprochen werden kann. Ich nenne nun diese Arbeiten: Die erste Leistung ist die Mitherausgeberschaft und Mitautorinnenschaft des 2000 erschienenen Lexikons der österreichischen Exilliteratur, an dem 15 Jahre gearbeitet wurde. Dieses Buch, das Siglinde Bolbecher mit Konstantin Kaiser und in Zusammenarbeit mit Evelyn Adunka, Ulrike Oedl und Nina Jakl geschaffen hat, ist ein Kompendium von ungeheurem Reichtum, das man nicht nur zum Nachschlagen, sondern eigentlich zur kontinuierlichen Lektüre verwenden sollte. Man kann sich darin verlieren und dadurch erst den großen Zusammenhang verstehen. Vielleicht lässt es sich sogar als Erfolg deuten, dass Mai2012 15