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In seinem Nachwort schreibt Karl-Markus Gauß über Brita Steinwendtners Gedichte: Worum es geht? Um Zorn und Empörung gegen Unrecht, das sich Jortzeugt; um den schönen Augenblick, der erlischt, aber weiterwirkt im Gedächtnis, um die aufblitzende Einsicht, die ihre eigene Zeit erschafft und die Welt dauerhaft in ein Davor und ein Danach teilt. [...] Brita Steinwendtner sucht die Dauer nicht dort, wo sogar die Meister der Beschleunigung ihr gerne ein schönes Refugium zubilligen, nämlich an dem geschichtsfernen, aus der Zeit gefallenen Ort. Zu solcher Flucht aus der Welt lässt sich die Autorin nicht verleiten, was sie rühmt und was sie anprangert, ist stets von dieser, von unserer Welt. Dass die Menschen ihr Wesen historisch ausgeprägt haben, ist ihr nicht der Sündenfall der Gattung, sondern deren Schicksal, vor dem sich der Einzelne bewähren oder an dem er scheitern kann. |...] Freigelassene waren jene politischen Häftlinge des Gefängnisses Stein an der Donau, die sich am 6. Mai 1945 auf den Weg nach Wien machten, in dem kleinen Ort Hadersdorfam Kamp vom Ortsgruppenleiter der NSDAP als “Flüchtige” gestellt, neuerlich verhaftet, der SS übergeben und anderntags in einem der letzten, für den militärischen Fortgang des Krieges völlig bedeutungslosen, aus schierer Alexander Emanuely Eine Art Rückkehr Zwischen zwei Träumen herrscht immer die bitterste Realität. Was zwischen zwei Träumen sei... Wenn man so wie ich etwas Glück hat, ist es Hühnersuppe, meistens in der Nacht und immer bei Meital in der Wohnung. Es waren besonders kalte Winternächte, die ich bei ihr verbrachte. Doch die Suppe war heiß, Meital fütterte mich mit tea and oranges that came all the way from China, und ich fühlte mich wohl. Meital stellte jeden Morgen die Suppe zu und ließ sie zwei, drei Stunden lang vor sich hin köcheln, bevor sie mittags zur Probe fuhr. Meital war Tänzerin. Wenn sie nach Mitternacht, nach der Vorstellung, erschöpft nach Hause kam, wurde die Suppe aufgewärmt. Doch seit einiger Zeit schien Meital diesen Rhythmus nicht mehr zu verkraften. Einiges zumindest deutete auf Unstimmigkeiten hin: Zunächst einmal erzählte sie immer wieder davon, dass ihr die Gage für die letzte Produktion erst in einem Jahr ausgezahlt werde. Und jedes Mal, wenn sie davon erzählte, wurde ihr Reden langsamer, so als wolle sie ihre Wut und Frustration aufstauen. Dann lagen auf dem Papierberg im Vorzimmer, neben den Büchern, Rechnungen und Werbeprospekten, immer mehr Blätter und Zettel aus einer anderen Welt, einer Welt, für die ich mich wenig kompetent fühlte, ging es doch um Religion. Auch erzählte sie mir immer öfter von einem Radiorabbiner, dessen Predigten sie in der Früh über Internet lauschte. „Er ist Rabbiner und Atheist. Wenn ich in Tel Aviv bin, muss ich in seine Vorlesung!... Ja, Atheist, du hast richtig gehört!“ Hinter dem Papierberg stand Meitals leicht ramponierte Kofferküche, die irgendwann einmal in einem Theater übrig geblieben war, und auf deren Herdplatte ein alter Topf aus Aluminium, in dem die Suppe köchelte. Dieser mobile Kochkasten nahm fast den ganzen Platz in Meitals Vorzimmer ein. Vorzimmer? Wohl eher Kabinett mit Eingangstür. Und dieses Kabinett war nicht Mordlust verübten Massaker erschossen, erschlagen, ins Massengrab geworfen wurden. Die Gemeinde will bis heute nicht daran erinnert werden, was auf ihrem Ortsgebiet und unter Beteiligung fanatischer Nationalsozialisten aus dem Ort geschehen ist. Auch deshalb trafen sich dort am 25. Mai 2007 österreichische Autoren zu einer GedenkLesung, und dabei begegneten sich Brita Steinwendtner und Herbert Kuhner zum ersten Mal. [...] Dies zu wissen, ist für das Verständnis der in zwei Sprachen zu uns sprechenden Gedichte nicht unbedingt vonnöten, es mag aber den Hintergrund erhellen, vor dem Steinwendtner schreibt und Kuhner übersetzt. Die Gewalt ist nicht thematischer Anlass, stofflicher Vorsatz dieser Gedichte, sondern ihre unausgesprochene Vorgeschichte. Brita Steinwendtner, geboren 1942 in Wels, Studium der Geschichte, Germanistik und Philosophie in Wien und Paris. Lebt als Autorin, Regisseurin und Feuilletonistin in Salzburg. Hörfunkfeatures und TVAutoren-Portraits für inund ausländische Rundfunkanstalten. Lehrtätigkeit an den Universitäten von Salzburg, Klagenfurt und an der Washington University in St. Louis/Missouri. Leiterin der Rauriser Literaturtage. Bücher u.a.: Rote Lackn (Roman 1999); Im Bernstein (Roman, 2005); Jeder Ort hat seinen Traum. Dichterlandschaften (2007); Du Engel Du Teufel. Emmy Haesele und Alfred Kubin — eine Liebesgeschichte (2009). nur Kiiche, sondern auch Esszimmer, Wohnzimmer, Papierberg und Duschecke zugleich... Meitals Wohnung im Hochparterre einer alten Mietskaserne in der Wiener Brigittenau war seit über hundert Jahren ein Mehrzweckdoppelkabinett fiir arme Leute. Neben der alten Duschkabine, die hinter der Kofferkiiche nistete, hatten nur sie und ich und die beiden Suppenteller auf einem kleinen, wackeligen Tisch Platz. Ich durfte auf dem Schaukelstuhl sitzen, der in diesem Kabinett wie ein überdimensionierter Thron wirkte, und blockierte somit, ganz im Sinne der religiösen Schriften auf dem Papierberg neben der Eingangstür, den Weg ins nächste Kabinett, auch Schlafzimmer genannt, das aber eigentlich gleichzeitig Bibliothek, Koffergarage und Sommerkleidungsdepot war. Meital machte es sich immer auf einem wackeligen Klappsessel bequem. Unter dem Tisch wärmte eine kleine, voll aufgedrehte Elektroheizung unsere Zehen. Da saßen wir nun und aßen die heiße Suppe. Meital sprang immer wieder auf und holte aus einem ihrer Depots neben Dusche oder Papierberg eine von den kleinen Weinflaschen, die an jene erinnerten, die man gewöhnlich im Flugzeug serviert bekommt. Es war ein Wein aus dem Burgenland, mit Koscher-Zertifikat, ein Geschenk von Shelly, ihrer Freundin und Studienkollegin in Sachen Gott. Gemeinsam studierten sie die Schriften des lubawitscher Kehot Verlages, eines Verlages, der in Wien vermutlich noch weniger Menschen erreichte als die Zeitschriften, für die ich gelegentlich schrieb. Ohne sich dagegen wehren zu können, fanden sich diese Bücher in allen möglichen Ecken von Meitals Wohnung wieder, zwischen jenen von E.T.A. Hoffmann, Dostojewski, Balzac und Anais Nin und zwischen den selbst gebrannten CDs mit Musik von PJ Harvey, Damien Rice und Noir Desir. Meitals heilige Folianten - ich erfuhr, dass sie mir unbekannte Titel wie Tanja oder mir schon eher bekannte wie Halacha trugen Mai2012 19