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In Paris war Meital das erste Mal in ihrem Leben der Atem in die Fersen gesackt, betonschwer, tanzunfähig. Die Rückkehr nach Israel war die einzige Rettung gewesen. Sie steckte ihre Zehen in den warmen Sand des Strands von Tel Aviv und fand ihre Beweglichkeit wieder, langsam, aber doch. Dann verschlug sie eine Produktion nach Wien — und in die Kabinettwohnung in einer tristen Seitengasse des Wallenstein Boulevards. Und hier drohte ihr nun wieder der Atem auszugehen. „Weißt du, ich bin so naiv, habe bis heute gedacht, dass sich mein Traum erfüllen wird. Tänzerin! Geliebt und verehrt... Naja. Jetzt brauche ich eben einen neuen Traum...“ Zwischen zwei Träumen herrscht immmer die bitterste Realität „... oder die Goldene Joich, komm iss! Oder schmeckt sie dir nicht? Dir schmeckt sie nicht? Ah, sag das doch gleich!“ Und ob sie mir schmeckte! Doch das war Meitals Endspiel-Humor, der an einem haften bleiben dürfte, wenn man einmal zu Beckett getanzt hat. Geld ist ungenießbar, Realität auch. Geld ist Meital nie wichtig gewesen, bis vor kurzem nicht. „So wie die Realität?“ will ich dummerweise fast fragen. Doch was ist schon Realität? Was heißt schon ungenießbar? Doch seit einiger Zeit quälen Meital Fragen wie: Wie willst du eine Familie gründen? Ohne Geld? Wie lebt man in einer Wohnung mit einem richtig großen Zimmer? Ohne Renate Welsh-Rabady Nicht hier Wieder einmal dieser Knoten. Sie war doch nicht verrückt, sie hatte sich die Schürze schon selbst umgebunden, als sie noch hinter ihrer Großmutter über den Hof gewatschelt war, nie hatte sie das Schürzenband verknotet, immer eine ordentliche Schleife gebunden, die sich mit einem Ruck aufziehen ließ. Aber angesichts der Tatsache, dass sich niemand, aber wirklich niemand, an ihrer Schürze zu schaffen gemacht haben konnte ohne zumindest eine Ohrfeige zu kassieren, musste es wohl sie selbst gewesen sein, die da drei Knoten gemacht hatte. Die Frau drehte die Handflächen nach oben, dann nach unten. Je länger sie schaute, umso fremder erschienen ihr die eigenen Hände. Sie bewegte einen Finger nach dem anderen, als sie Schritte hörte, warf sie die Schürze mit Schwung in den Wäschekorb. Der Portier wünschte ihr einen schönen Abend, sie winkte ihm, lief zur Haltestelle. Vor der Bank stritten sechs, nein sieben Spatzen um ein paar Brotkrümel. Dass daneben eine angebissene Semmel lag, beachteten sie nicht, plusterten sich auf, tschilpten, stießen mit den Schnäbeln in die Luft. Der Bus sollte längst da sein. Ihr Mann lief jetzt schon vom Zimmer in die Küche, aus der Küche ins Zimmer, beugte sich weit aus dem Fenster, lief hinaus auf den Gang. Die Mieter der Wohnung im ersten Stock hatten sich gestern wieder bei ihr beschwert über das ewige Getrampel über ihren Köpfen. Die Frau hatte versucht, mit ihrem Mann darüber zu reden, da hatte er sie angesehen, als wüsste er nicht, wovon sie sprach. Sie schüttelte den Kopf, obwohl sie längst jede Hoffnung aufgegeben hatte, dass sie die Verwirrung aus sich herausschütteln könnte. Die dröhnte nicht mehr nur im Kopf. Die hatte sich in jedem Teil ihres Körpers eingenistet, in jeder Zelle. Geld? Wie kann man sich Winterschuhe kaufen? „Geld ist nicht alles, Winterschuhe sind nicht alles, aber weißt du, auf der Bühne verlangt man alles von mir, doch geben, geben tut mir dort niemand was. Du sichst ja, wie ich lebe. Du kennst ja die ganzen Geschichten... Immer kämpfen, damit du dabei bleiben darfst, immer durchhalten... immer dankbar sein, immer bescheiden und voller Sorgen sein, und dann mit diesen Sorgen allein gelassen werden, und trotzdem auf der Bühne stolz die Brust heben, als wäre man wer... Und bei Chabad... da muss ich wohl auch alles geben, nur, dort bekomme ich auch was zurück, ein Lächeln, das Gefühl erwünscht zu sein, dazu zu gehören. Ich muss ihnen nichts beweisen. Nein, das stimmt nicht, aber ich... Weißt du, ich bin müde, müde von der Bühne. Ich will Ruhe und Geborgenheit... In ein paar Jahren bin ich 40, da werden sie mich von der Bühne jagen, wie eine Aussätzige, oder kennst du Tänzerinnen mit 40? Und dann nur noch Fitnesstrainerin sein? Nein. Dieser lange, lange Weg, um am Ende Fitnesstrainerin zu sein? Nein...“ Ich schaukle ein wenig auf meinem Stuhl. Meital holt eine der kleinen Rotweinflaschen vom Kleiderschrank. Wir essen und trinken in dieser Nacht besonders langsam und viel. Meitals Rückkehr ist beschlossene Sache. Manchmal fand sie es beinahe komisch, wie freundlich ihr von heute aus geschen die Zeit schien, wo er als Dolmetscher gearbeitet hatte. Zwar war er oft erschöpft heimgekommen nach einem Tag vor Gericht oder bei der Fremdenpolizei, immer wieder hilflos wütend über Vorurteile und Ressentiments. Ständig würden die Beamten versuchen, einem einen Strick aus den eigenen Worten zu drehen, klagte er beinahe jeden Abend, und wenn man nicht ständig auf der Hut wäre, würden sie einen als Postpaket verschnüren und zurückschicken. Niemand könne sich vorstellen, wie wichtig es sei, jedes Wort auf die Goldwaage zu legen. Die hakten sofort nach, die wären nicht daran interessiert, die Geschichte eines Flüchtlings zu hören, denen ginge es immer nur darum, die Löcher in jeder Geschichte nachzuweisen. Wobei in Wirklichkeit gerade darin das Problem liege, dass die Wahrheit dessen, was diese Menschen erlebt hätten, nur ganz selten dem entspreche, was gemeinhin als wahrscheinlich gelte. Gerade in den Löchern läge der Beweis dafür, dass die Asylsuchenden die Wahrheit sagten, das habe er bei seiner Arbeit gelernt, aber die, die über das Schicksal dieser Menschen zu entscheiden hätten, die könnten das nicht verstehen, vielmehr wollten sie es nicht verstehen, sonst bekäme womöglich ihr ganzes Denkgebäude einen Riss, vielleicht ahnten sie, was durch einen solchen Riss eindringen könnte, am Ende gar Zweifel an der eigenen Unfehlbarkeit. An diesem Punkt hatte sich ihr Mann oft in Rage geredet, war im Zimmer auf und ab gelaufen, bis sie ihn an beiden Armen packte, ihn zum Sofa führte und sich neben ihn setzte. Nach einer Weile konnte er akzeptieren, dass die Flüchtlinge bestimmt spürten, dass wenigstens er ihnen glaubte, dass er auf ihrer Seite war, obwohl er ihnen nicht helfen konnte, und obwohl längere Gespräche zwischen ihnen sofort unterbunden wurden. Dazu Mai2012 21