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kam die Unsicherheit ihrer eigenen Situation, ihre befristeten Aufenthaltsgenehmigungen, die Schwierigkeit, eine bezahlbare Wohnung zu finden, die Sorge um die Angehörigen, die zu Hause geblieben waren und offen und versteckt in ihren Briefen Vorwürfe machten, weil sie das Märchen vom Land, wo Milch und Honig flossen für wahr hielten, wie sie es aus Fernsehserien zu kennen meinten. Irgendwann war ihr aufgefallen, dass er viel langsamer redete als früher, oft mit irritierenden Pausen zwischen den Wörtern. Als sie ihn darauf ansprach, schaute er sie lange an, erst als sie nicht mehr mit einer Antwort rechnete, sagte er, er habe wohl seine Unschuld im Umgang mit der Sprache verloren. Nicht einmal seiner Muttersprache traue er mehr, jedes Wort könnte auch etwas anderes heißen, er habe die Fähigkeit verloren, einfach nur drauflos zu reden. Normalerweise genüge es vermutlich, den Sinn wiederzugeben, es müsse ja alles so schnell gehen, wenn man zu lange nachdenke, hegten die Beamten sofort den Verdacht, man verschweige ihnen etwas, beschönige, verzerre, verleugne. Er sei nun einmal kein Dolmetscher, aber hier wäre auch ein hervorragender, ein professioneller Dolmetscher nicht gut genug, hier bräuchte es einen, der zugleich Anwalt sei und sich das nicht anmerken ließe. Er schlug mit der Faust auf den Tisch, so dass die Teetassen ins Rutschen kamen und eine wie in Zeitlupe über den Rand schlitterte und zerbrach. Warum habe ich sie nicht aufgefangen, fragte sie sich und starrte die Scherben an. Als sie den Blick hob und sah, wie zerknirscht ihr Mann dreinschaute, fing sie an zu lachen und konnte nicht mehr aufhören. Wenn sie nach einem Tag bei Gericht im Bett lagen, zog er sie mit einer verzweifelten Heftigkeit an sich, die ihr Angst machte. Er redete oft im Schlaf, aber sie verstand nicht, was er sagte, seine Beine zuckten und schlugen aus. Wenn sie die Arme um ihn legte und ihn wiegte, beruhigte er sich. Ich habe ihn zu meinem Kind gemacht, wurde ihr plötzlich klar, und gleich darauf schämte sie sich, als wäre der Gedanke eine besonderes schlimme Form des Verrats. Sie hatte doch nicht einen Augenblick gezögert, mit ihm ihr Land zu verlassen, obwohl für sie damals keine akute Gefahr bestand, verteidigte sie sich. Und was hat das mit dem Preis von Kukuruz zu tun? schallte es aus völlig unerfindlichen Gründen in ihrem Hirn und beschäftigte sie, bis ihr endlich einfiel, dass das eine stehende Redewendung des jungen Zivildieners war, der seit ein paar Wochen auf der Station arbeitete. Federzeichnung von Christian Thanhäuser zu den Gedichten Brita Steinwendters 22 _ ZWISCHENWELT Wo blieb dieser Bus? Theoretisch sollten die Intervalle jetzt nicht mehr als acht Minuten betragen. Sie wartete bestimmt schon länger als zehn Minuten. Wenn sie das gewusst hätte, wäre sie hinunter zur Straßenbahn gerannt. Trotz aller Erfahrungen, die er selbst gemacht hatte, war das Vertrauen ihres Mannes in die Zuverlässigkeit der öffentlichen Einrichtungen Österreichs ungebrochen, allen voran und insbesondere in die Pünktlichkeit der öffentlichen Verkehrsmittel. Wenn sie später heimkam als er sie erwartete, musste etwas Furchtbares geschehen sein. Seine Angst um sie schlug so leicht in Wut um, und je mehr er sie zu unterdrücken suchte, umso mehr füllte diese Wut jeden Winkel der Wohnung, bis für sonst nichts mehr Platz war. Drei junge Pflegehelferinnen von ihrer Station kamen eingehakt herangelaufen, grüßten, stellten sich im Kreis auf, als wollten sie Ringelreihen tanzen. Ihre langen schwarzen Zöpfe baumelten, sie wirkten so arglos, so fröhlich. Die Frau schluckte. Wie jung sie sind, ging ihr durch den Kopf, und dabei meinte sie das Echo der Stimme ihrer Großmutter zu hören. War ich je so jung? Eine von den dreien flatterte mit den Händen wie ein Schmetterling. Gleich würde sie abheben. Die anderen klatschten dazu und lachten. Sein Lachen war das erste gewesen, was ihr an ihrem Mann aufgefallen war. In einem Raum voller Leute hatte er gelacht und sie war auf ihn zugegangen, weil sie den Menschen kennenlernen wollte, der so lachen konnte. Über alles und nichts hatte er lachen können, oft über Dinge, deren Komik nur er sah. Seit er nicht mehr lachte, versuchte sie, sich das Lachen in Erinnerung zu rufen, es zu beschreiben. Es gelang ihr nicht. Tief aus dem Brustkorb kam es, aber es hatte auch helle Töne, keineswegs meckernde, das nicht, meckerndes Lachen hatte sie immer schon abstoßend gefunden, vor allem bei einem Mann, nie im Leben wäre sie mit einem Mann ins Bett gegangen, der meckernd lachte. Ob er je wieder lachen würde? Manchmal verzog er den Mund, aber dieses Grinsen war das Gegenteil von Lachen. Ein Gegensatz wie Nein und Ja. Sein Lachen war ein großes Ja, dachte sie, und war zufrieden mit diesem Satz, als hätte sie dadurch etwas Kostbares bewahrt. Sie stieg von einem Fuß auf den anderen, nicht so schr, weil ihr langsam kalt wurde, sondern weil sie das Gefühl hatte, Ameisen krabbelten an ihren Beinen auf und ab. Sie verbot sich auf die Uhr zu schauen.