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Preisbegründung lautete: Eva Kollisch hat uns gezeigt, was Exil bedeutet, schon bevor man ins Ausland muss. Sie hat aufs Eindringlichste geschildert, was Kinder einer Minderheit erleben, wenn sie ausgegrenzt werden. Sie hat uns eine ungenügend bekannte Schattenseite von Österreich vor dem Anschluß vorgeführt, aus der hellwachen Perspektive eines hochintelligenten Kindes, dem der Boden unter den Füßen entzogen wird. Ihre ganze Kindheit sei eine „Meditation über Macht und Machtlosigkeit“ gewesen, meint sie, und zu diesem Thema hat sie Entscheidendes beigetragen. Als Erwachsene, im Ausland und in der Freiheit, hat sie die Konsequenz ihrer frühen Erfahrungen gezogen und sich politisch und schriftstellerisch engagiert für Gleichberechtigung und ein humaneres Zusammenleben von Menschen verschiedener Herkunft. Es ist ihr Verdienst, die Enttäuschungen, die ihr auf diesem Weg begegnet sind, ebenso klarsichtig darzustellen wie die Hoffnungen. Ihr Werk ist eine wichtige Bereicherung für unser Verständnis der Exilerfahrung. und nach ihren Kindern, und sie antworteten ihr im österreichischen Dialekt und schienen geschmeichelt, dass diese schöne, gebildete Dame sich für sie interessierte. Wenn das Gespräch zu lange dauerte, scharrte ich mit den Schuhen ungeduldig im Kies. Erst jetzt, da ich selbst eine besondere Beziehung zu einigen Verkäufern auf meinem Markt habe, weiß ich, wie anziehend und beruhigend es ist, mit Leuten zu sprechen, deren Leben ganz anders ist als das eigene — mein Fischhandler aus Hampton Bays, der jeden Morgen um fünf mit seinem Motorboot hinausfährt, dann heimkommt, frühstückt und schließlich mit seinem Fang, in Kühlboxen hinten auf dem Laster, in die Stadt, auf den 97th Street Markt fährt. Oder Dolores, meine Gemüsefrau aus Costa Rica, deren Mann sie vor über einem Jahr verlassen hat. Nachdem sie einige Wochen geweint hatte und meinte, sie könne nicht weiterleben, begann sie aufihrem kleinen Stück Land wunderbare Kräuter und Gemüse anzubauen. Das Geld für die Zulassung ihres Marktstandes borgte sie sich von ihrer älteren Schwester. Ihre zwei Mädchen sind im Kindergarten. Ihre Salate, ihr Sellerie, die Zucchini, Radieschen und Rüben sind kunstvoll arrangiert. Oft singt sie, auf Spanisch. Manchmal kann man sie zu einem Kunden sagen hören, sie danke Gott, der ihr erlaube, Mutter und Geschäftsfrau zugleich zu sein. Aber zurück zu meiner Mutter. Ich bezweifle nicht, manche meiner Überzeugungen und Wertvorstellungen von ihr zu haben. Wie ich jünger war, habe ich das bestritten, um mir meine Unabhängigkeit und Ablösung von meiner Mutter zu beweisen. Jetzt bin ich bereit, ihr eine Rolle in meinem Denken und Sein einzuräumen. Aber in dieser Geschichte geht es nicht mehr um 24 ZWISCHENWELT mich, mich, mich! Was ich wirklich möchte, ist, sie so klar wie möglich zu schen, besonders die kleinen und auch die großen Dinge, denen ich früher keine Beachtung geschenkt habe. Warum? Weil sie die einzige Person ist, die immer bei mir war: zuerst als Mensch und Mittelpunkt meines Lebens, jetzt seit vielen Jahren als ein in meinem Innern Präsentes, das sich unvermittelt bemerkbar macht, selbst wenn ich nicht an sie denke. Ein deutscher Ausdruck wie „Gott sei Dank“ oder „Pfui Teufel“ kann das auslösen; oder ich sehe plötzlich ihr Gesicht vor mir, wenn ich ein Schubertlied auf meinem CD-Player spiele, und plötzlich weiß, dass sie mit mir zugehört hat. Ich möchte meine Mutter, die als Mutter agierte, trennen von diesen wunderbaren Momenten meiner Kindheit, wenn wireinen Scherz, eine Einsicht oder ein Eis teilten. 1938/39, als ich im Bondi-Heim in Wien lebte, einem Internat für jüdische Mädchen, besuchte sie mich selten. Sie war zu schr damit beschäftigt, einen Weg zu finden, uns aus dem angsterregenden Nazi-Österreich herauszubekommen. Aber eines Tages kam sie ganz unerwartet ins Bondi-Heim. Ich muss ungefähr dreizehneinhalb Jahre alt gewesen sein. Eine der Direktorinnen, Frau Dr. Blau, ging ihr entgegen, um sie zu begrüßen. Die zwei Frauen tuschelten einen Moment, dann wandte sich meine Mutter mir zu, umarmte mich and gab mir zugleich eine Ohrfeige. „Gratuliere!“, sagte sie. „Ich hab gehört, dass du jetzt eine Frau bist.“ Die zwei Erwachsenen lächelten verschwörerisch, aber ich wandte mich voll Scham ab. Was sollte diese blöde Redewendung „Du bist jetzt eine Frau“ bedeuten? Ich war dieselbe, die ich gewesen war, bevor ich menstruierte. Nur jetzt würde ich jeden Monat Krämpfe bekommen. Und wenn ich die Baumwollbinde nicht sorgfältig genug zwischen meinen Beine platzierte, würde ich Blut in meinen Unterhosen finden. Warum schaute mich meine Mutter mit so viel Zuneigung und Stolz an? Sie konnte mich in solchen Momenten nicht wirklich mögen. Ich hatte das Gefühl, dass sie bloß schauspielerte, und tat, was man von ihr erwartete. Sie inszenierte die Mutterrolle. Ich hatte bemerkt, dass sie sich oft nicht wohlfühlte, wenn sie in der Öffentlichkeit als Mutter auftreten musste oder als die Gnädige, die die Hausmädchen dirigierte, oder gar als Ehefrau. Es war sicher ein wenig Theater dabei, wenn sie bei Tisch auf liebeswürdigste Weise versuchte, meinen Vater zu beruhigen, der einen seiner Tobsuchtsanfälle hatte und drohte, die Suppe oder das Risipisi, den Reis mit Erbsen, zu Boden zu schleudern, weil das Essen nicht heiß genug wäre. Ich weiß, was meine Mutter wirklich mochte: einsame Spaziergänge im Wald, wenn sie aufdem Land war, Gedichte schreiben, mir die Handlung von klassischen Dramen und Opern erzählen, Gedichte rezitieren, irgendeine öffentliche Person (z.B. unseren Rabbiner) mit Geist und leichtem Spott kritisieren, sich über einen Verwandten oder Nachbarn lustig machen — gemeinsam mit mir; wir waren dann Kameradinnen, wir dachten ganz gleich, subversiv, und da liebte ich sie. Meine ganze Kindheit und Jugend lang dachte ich über meine Mutter nach und meistens verehrte ich sie. „Beste Freundinnen“, pflegte sie zu sagen, besonders wenn ich darüber klagte, dass ich keine beste Freundin in der Schule hatte. „Aber du hast mich“, antwortete sie dann mit einem liebevollen Lächeln. So sehr mir das gefiel, wurde es später dennoch etwas, was ich ihr vorwarf. Ich hatte gelesen, was Kinderpsychologen und Psychoanalytiker darüber sagten: Eltern sollten nicht versuchen, mit ihren Kindern Kinder zu sein.