OCR
Jetzt scheint mir ihre Behauptung, wir seien die besten Freundinnen, eine hilflose Antwort auf meine Einsamkeit in Baden. Sie wollte mich trösten, als Ausgleich für die Zurückweisung, die ich von etlichen Mitschülerinnen und Lehrern erfuhr. Sie hatte ihren Grund im Antisemitismus. Nach Hitlers Einmarsch in Österreich verbrachte meine Mutter viel Zeit damit, im New Yorker Telefonbuch nach Namen zu suchen, die dem unseren ähnlich waren. (Ich habe darüber in Der Boden unter meinen Füfsen geschrieben.) Sie schrieb dann Briefe, meistens adressiert an die Frauen dieses Namens, in denen sie unsere Notlage als Juden schilderte und meinte, dass wir verwandt sein könnten; dass sie vielleicht Juden wären wie wir, nur in einer glücklicheren Lage. Obwohl das, nach der Meinung der Verwandten meines Vaters, die meine Mutter immer als „die Unpraktische“ bezeichneten, wenig erfolgversprechende Versuche waren, wandte sie viel Zeit und Energie auf diese Briefe — diese Hilfeschreie. Jeder Brief, ob nun hand- oder maschingeschrieben, wurde eigens abgefasst. Meine Mutter lehnte den Gedanken an arbeitssparende Methoden ab, so etwa Durchschläge zu machen oder denselben Wortlaut bei verschiedenen Adressaten zu verwenden und bloß Namen und Adressen der Empfänger zu ändern. Auf ihre Art war sie abergläubisch oder religiös, oder einfach nur moralisch. Nein, diese Briefe mussten vom Herzen kommen und jeweils einzeln an einen bestimmten Menschen geschrieben werden. Briefe voll von ihren Hoffnungen und Ängsten waren als Kopien undenkbar. Und sie war überzeugt, bestraft zu werden, wenn sie versuchte, im Herzen der Angeschriebenen Gefühle hervorzurufen, während sie selbst nichts fühlte: Nie bekäme sie dann eine Antwort auf ihre Hilferufe, und noch Schlimmeres drohe ihr und ihrer Familie. Ich, die ich damals im Bondi-Heim lebte, hatte keine Ahnung, was sie durchmachen musste. Sie klagte nie, und ich begann mein eigenes Leben zu führen. Mein Vater belächelte ihre Versuche, uns durch ihre Briefe Affıdavits zu besorgen, während er ernsthafte Dinge tat, indem er zum Beispiel Formulare, die detailliert seine Vermögensverhältnisse darlegten, ausfüllte und den Nazibehörden seine verschiedenen Investitionen und Konten erklärte. Sie behandelten ihn höflich, fast mit Respekt, weil er noch immer ein wohlhabender Mann war und sie sein Geld in die Hände bekommen wollten — jüdisches Geld von einem jüdischen Schwein! —, während er glaubte, zu kooperieren sei noch am besten. Was das Briefeschreiben an unbekannte Menschen in Amerika betraf, um sie um Verständnis zu bitten, so war das Frauensache — von einer Ehefrau zur anderen, von einer Mutter zur anderen. Genauso der Kindertransport: Sie muss es gewesen sein, nicht mein Vater, die das organisierte; die die Anträge ausfüllte, sich stundenlang anstellte und auf ein Interview mit einem britischen Beamten hoffte; sie, die das Packen organisierte — die Liste von Kleidern und Toiletteartikeln, die jedes Kind mitbringen musste. Sie zuerst, nicht mein Vater, konnte die innere Kraft aufbringen, die Kinder gehen zu lassen. Es waren die Frauen, wie ich später aus meinen Gesprächen über den Kindertransport erfuhr, die die „Praktischen“ waren, die Entscheidungen trafen, und die Schritt für Schritt die Ausreise der Kinder vorbereiteten. Ich weiß nicht, was die Männer taten; vielleicht standen sie hilflos daneben, während die Mütter die richtige Menge von Socken und Unterhosen zusammensuchten und Ftikette hinein nähten --wie für das Sommerlager. Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Mutter vorher mit uns über die bevorstehende Trennung gesprochen hätte. Die Familien waren von den Kindertransportorganisatoren angehalten worden, sich zurückzuhalten und wie nebenbei über die Reise zu sprechen, zuversichtlich, dass es bald eine Wiedervereinigung der Familie in England gäbe. Aber als der Tag kam, an dem all die einzelnen Details der Vorbereitung auf dem Bahnhof in Wien zur Wirklichkeit wurden, waren es weit öfter die Männer als die Frauen, die, wie viele Berichte erzählen, zusammenbrachen und in Tränen ausbrachen. Meine eigene Erinnerung an den Abschied ist fast völlig verblasst und vermischt sich mit den Geschichten und Filmen, die ich seither gehort und gesehen habe (z.B. den Film Jnto the Arms of Strangers). Aber seit diesem Moment der Trennung, das weif ich genau, haben sich meine Geftihle fiir meine Eltern radikal geandert. Die Sorge um meine Mutter, die so viel Angst und Leid hatte, bevor sie aus Österreich ausreisen konnte, überschattete meine ersten Monate in England, und meine Bewunderung für sie war grenzenlos: Was für einen Mut erforderte es und welche Liebe zu uns, um optimistische, ja sogar fröhliche Briefe aus Österreich und später aus Holland, wo sie vorübergehend Zuflucht gefunden hatte, zu schreiben — angesichts der ständig geringer werdenden Wahrscheinlichkeit, zeitgerecht ausreisen zu können und mit uns wieder vereint zu sein. Meine Sympathie für meinen unglücklichen Vater stammt auch aus dieser Zeit. Auf seinem Weg nach Amerika war er kurz nach England gekommen, um die Kinder zu sehen, und ich hatte das Gefühl, ihn vor seinen Selbstvorwürfen beschützen zu müssen, weil er seine Frau, mit ihrer Zustimmung, zurückgelassen hatte. Ich sagte ihm, dass wir alle von ihm Kraft und Mut erwarteten: Mutti, die ihn als Ehemann brauchte, und wir, die wir ihn als unseren Vater brauchten. In diesen Formeln, die ich täglich wie derholte und dann, nach seiner Abreise, in meinen Briefen schrieb, verwandelte ich uns in eine Musterfamilie. Als unsere kleine Familie- entgegen aller Wahrscheinlichkeit-auf Staten Island wieder vereint war und meine Eltern begannen, mit Optimismus von ganz unten den Lebensunterhalt zu verdienen, bewunderte ich sie beide. Die Karikaturen, zu denen ich sie vor unserer Emigration in meinem Kopf und Herz gemacht hatte, waren mit einem Mal weggewischt. Von da an wurden meine Eltern mehr und mehr zu Personen in einer Geschichte. Ich beobachtete mit Spannung und Sympathie, wie meine Mutter sich abmühte, Autofahren zu lernen. Sie war Masseuse geworden, und um ihre Patienten, die auf Staten Island verstreut lebten, zu besuchen, brauchte sie ein Auto. Sie nahm Fahrstunden und verzweifelte oft bei dem Versuch, diese für sie schwer fassbare Fertigkeit zu erlernen, mit der die meisten Mai2012 25