OCR
Margarete Kollisch. Foto: Archiv E. Kollisch Amerikaner geboren zu sein schienen. Sie beklagte ihren Mangel an technischer Begabung, wie ich es fünfzehn Jahre später auch tat, als ich Fahrstunden nahm. Um die Unmenschlichkeit der Maschine auszugleichen, nannte sie den kleinen Gebrauchtwagen, den ihr Fahrlehrer für sie gefunden hatte, Arturo. Das stand für Arturo Toscanini, den berühmten italienischen Dirigenten, den sie bewunderte und verehrte. Sie arbeitete sehr hart, massierte ihre Klienten auf Staten Island für, glaube ich, 25 Cent pro Stunde und gab anderen Flüchtlingen in Manhattan Englischstunden für 20 Cent pro Stunde. Aber irgendwie schaffte sie es sogar mit dem wenigen Geld, das sie verdiente, und mit dem noch geringeren Einkommen meines Vaters, der von Haus zu Haus ging und Fuller Bürsten verkaufte, recht bald Konzerte zu besuchen und manchmal sogar in die Oper zu gehen. Sie kaufte die billigsten Karten, um die Musik ihrer Jugend zu hören — Mozart, Beethoven, Schubert, Mahler und Strauss —, die sie, wie sie sagte, dringender brauchte als jedes Küchengerät oder einen neuen Mantel. Mehr und mehr wurde mir bewusst, wie sehr die Identität meiner Mutter durch die Landschaft, die Literatur und Musik ihres Heimatlandes geformt war. Es verwunderte mich, und ich konnte diese rückhaltlose Loyalität ihrer Vergangenheit gegenüber nur mit Betroffenheit und einem gewissen Neid betrachten. Aber nach einiger Zeit begann ich zu verstehen, dass Kultur, ob zum Guten oder zum Bösen, etwas ist, das sehr früh in unser Leben eindringen muss, sodass wir, bevor wir es überhaupt bemerken, von ihr geprägt sind. Ich beneidete meine Mutter um das Leben, das sie in ihrer Kindheit und Jugend und sogar im frühen Erwachsenenalter in Österreich geführt hatte. Sie hatte ihre Wurzeln, während ich nirgends dazugehörte. Und so kamen wir zu unseren unterschiedlichen Meinungen über Österreich — und über das Leben. Ich glaubte, wenigstens in meiner Jugend, dass mit den Nazimördern dort drüben und den kapitalistischen Ausbeutern in unserem Gastland nur „die Revolution“ das Unrecht aufder Welt beseitigen könne. Ich betrachtete meine Mutter und ihre literarischen Freunde, die weiterhin Gedichte in deutscher Sprache schrieben und an den verschiedenen kulturellen Veranstaltungen der deutsch-österreichischen Flüchtlingsgemeinde teilnahmen, mit Staunen und gewolltem Unverständnis. Was sie aus ihrer Vergangenheit besaßen, hatten sie in dieses kleine „Wien in New York“ mitgebracht. Gemeinsam bauten sie diese Kultur in ihrer neuen Heimat wieder auf — während dort drüben die 26 _ ZWISCHENWELT Naziherrscher mit ihren Stiefeln ihr Heimatland und den Rest Europas zertrampelten. Als mein Vater in den späten 1940er Jahren an Magenkrebs erkrankte, mietete sie ein Spitalsbett und ließ es vor das einzige Fenster in unserer Wohnung stellen, von dem aus man Bäume sehen konnte. Sie bezahlte eine Frau, die bei meinem Vater blieb, während sie arbeiten ging. Wir Kinder, die schon junge Erwachsene waren, in New York lebten und studierten oder arbeiteten, wurden für einen Abend pro Woche zurück nach Staten Island bestellt. Wir hatten alle unsere Nachtschicht, in der wir uns um unseren Vater kümmerten. Das Leiden meines Vaters dauerte über ein Jahr. Er stöhnte, wälzte sich herum und stieß erbärmliche Schreie aus, wenn jemand von uns ihn berührte. Aber eines Nachts starb er (meine Mutter hatte uns alle nach Staten Island kommandiert) — mit einem Ausdruck des Friedens auf seinem Gesicht. Es war unser erster Todesfall; meine Mutter hatte schon andere erlebt. Den ihrer Eltern, die in Wien starben, Gott sei Dank bevor die Nazis kamen; den verwundeter Soldaten während des Ersten Weltkrieges, als sie freiwillig als Krankenschwester arbeitete. War es dieses Wissen um den Tod, das sie festigte und ihr so viel Einsicht gab in jede Form von Freud und Leid? Als meine Mutter ungefähr sechzig war, verliebte sie sich in einen deutschen Flüchtling, einen Arzt auf Staten Island. Es war eine Freundschaft , die auf der gemeinsamen Leidenschaft für deutsche Literatur und Musik basierte. Sie konnten ganze Gedichte von Goethe und Hofmannsthal auswendig rezitieren. Aber meine Mutter, die selbst etwas Medizin studiert hatte, kannte sich auch mit der Krankheit des Doktors aus. Er war ein starker Raucher gewesen, litt an Lungenkrebs und erklarte mit einer wegwerfenden Handbewegung, dass er nichts bereue. Meine Mutter war wöchentlich Gast in seinem Haus, wo sie die Frau des Doktors massierte, die an schwerer Arthritis litt. Die Frau des Doktors bestand darauf, dass meine Mutter nach der Massage noch zum Tee blieb. Oft behauptete sie nach der Behandlung müde zu sein und ließ den Doktor und meine Mutter alleine Tee trinken. Die Ehefrau verstand, meinte meine Mutter, was sich zwischen dem literarisch interessierten Doktor und der medizinisch bewanderten Dichter-Masseuse abspielte, und förderte es um des Hausfriedens willen. Sie mochte meine Mutter gern und sprach oft mit leichter Ironie über ihren Ehemann, selbst in seiner Gegenwart. Ich wusste so viel über all das, weil ich zu dieser Zeit die Vertraute meiner Mutter war - allerdings nur bis zu einem gewissen Grad. Einige Monate nach dem Tod des Doktors erzählte sie mir, dass ihre Liebesgeschichte schon viel früher begonnen hatte - zur Zeit, in der mein Vater noch lebte. „Wenn Papas Krankheit nicht gewesen wäre, hätte ich ihn vielleicht verlassen“, sagte sie. Ich konnte es nicht glauben, wurde für einen Moment zornig. „Du hättest Papa verlassen, um ein neues Leben mit dem Doktor zu beginnen?“, fragte ich entrüstet. „Vielleicht“, meinte sie verträumt. Bis dahin hatte ich die Affaire meiner Mutter mit dem Doktor nicht ernst genommen und als eine ihrer Fantasien abgetan. Und kurz nach diesem Gespräch verdrängte ich weiterhin, was sie mir erzählt hatte. Ich dachte, dass meine Mutter sich in ihrer Einsamkeit eine romantische Geschichte zusammengedichet habe, aber dass es unmöglich sei, mit 60 Jahren noch Liebe oder Leidenschaft zu erleben. Ich hatte später Gelegenheit, diese Meinung zu revidieren, als ich mich ungefähr dreißig Jahre später - ich war selbst 60 - in jemanden verliebte, die auch Dichterin war. Sie ist die Frau, mit der ich bis heute mein Leben teile.