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Als meine Mutter in ihren 70ern war, gab sie ihre Arbeit auf Staten Island auf und zog nach Manhattan. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie eine eigene Wohnung. Sie arbeitete ehrenamtlich in einem nahen Krankenhaus, wo sie Geriatriepatienten, von denen viele jünger waren als sie selbst, massierte. Und endlich konnte sie das Leben einer Intellektuellen und Dichterin führen, das sie sich vielleicht immer gewünscht, sich aber nie zugestanden hatte. Jeden Morgen las oder schrieb sie; an den Nachmittagen arbeitete sie zweimal in der Woche im Krankenhaus, ging im Park spazieren oder ging in ein Museum. Sie war politisch aktiv und demonstrierte mit mir, ihrer aktivistischen Tochter, gegen den Vietnamkrieg. Am Abend besuchte sie wohl ein Konzert, eine Dichterlesung oder eine Diskussion im Austrian Forum; sie unternahm sogar zwei oder drei kurze Reisen nach Wien. Es war ein gutes Leben. Meine Mutter starb, als sie 85 Jahre alt war. Sie hatte einen ulzerierten Leistenbruch, von dem sie sich hätte erholen können. Aber nach der Operation weigerte sich meine Mutter zu essen und zu trinken. Sie beschloss, von nun an nur noch mit „dem lieben Gott“ zu sprechen. Als wir ihr sagten, dass wir sie in der kommenden Woche nach Hause holen würden und eine Pflegerin für sie gefunden hatten, lachte sie sarkastisch. Ich wusste aus früheren Gesprächen, dass der Gedanke, jemand müsse sich um sie kümmern, für sie unerträglich war. In ihren letzten Tagen schien sie uns, meine Brüder und mich, wieder wahrzunehmen, wenn wir ihr die Hand hielten oder mit ihr zu sprechen versuchten. Eines Tages setzte sie sich sogar im Bett auf und umarmte uns alle drei, bevor wir gingen. Aber als wir am nächstem Morgen ins Krankenhaus kamen, erfuhren wir, dass uns unsere Mutter verlassen hatte: Sie war in der Nacht gestorben. Jetzt, da ich ungefähr im selben Alter bin wie meine Mutter, als sie starb, habe ich versucht, ihre Geschichte noch einmal zu erzählen — mit größerer Aufmerksamkeit für das, was ich zuvor ausgelassen oder nicht genug beachtet hatte. Diesmal war sie meinem lauschenden Ohr so nahe, dass ich manchmal das Gefühl hatte, sie würde die Geschichte selbst erzählen. Und ich bekam einen Eindruck von ihr und wer sie war, der frei schien von meiner Interpretation. Sie war zu mir zurückgekommen in all den verschiedenen Phasen ihres Lebens und bewegte sich beschwingt an den Hürden vorbei, die meine Brüder und ich, die Geschichte und die Konventionen ihrer Zeit ihr in den Weg gestellt hatten. Da wir beide nun erwachsene und emanzipierte Frauen seien, schien sie zu sagen, sei es jetzt doch an der Zeit, sie gehen zu lassen. „Natürlich“, sagte ich, geschmeichelt, weil sie uns als gleichberechtigt hinstellte. Aber zu mir selbst sagte ich etwas verletzt: Meine Mutter, die ich mit meiner Liebe und Bewunderung gechrt habe, über die ich schrieb und die ich der Welt zu erklären versuchte, wollte einfach ihre Freiheit. Freiheit, besonders von mir! Was konnte ich tun? Ich gab sie ihr. Und damit ist der letzte Schutzwall zwischen mir und dem Alter zerbröckelt. Wieder einmal hat mir meine Mutter den Weg gezeigt. Jetzt gehe ich ins Unbekannte, verwaist, aber dankbar, dass ich eine solche Vorgängerin hatte. Ich lerne alles zu akzeptieren, was sie wollte und was kommen wird. Ich lasse sie von jetzt an in Ruhe, aber ich hätte sie so gern noch einmal geschen und geküsst, che sie ging. Eva Kollischs Mutter Margarete Kollisch, geb. Moller (9.12. 1893 Wien — 11.10. 1979 New York), studierte in Wien Neuere Philologie, legte 1917 die Lehramtsprüfung ab und arbeitete als Lehrerin, Übersetzerin und Journalistin. 1923 heiratete sie den Architekten Otto Kollisch (1881 — 1952), mit dem sie drei Kinder hatte: Eva, Stefan und Peter, die im Juli 1939 mit einem Kindertransport nach England gerettet werden konnten. Margarete und ihr Mann flüchteten 1939 in die USA. Erst im April 1940 konnten die Kinder den Eltern in die USA nachfolgen. Margarete arbeitete als Heilmasseurin, gab französischen und deutschen Sprachunterricht, schrieb Gedichte, Erzählungen, Märchen und veröffentlichte in Literaturzeitschrifien und Anthologien. Erst spät in ihrem Leben und sogar nach ihrem Tod erst erschienen ihre Bücher „Wege und Einkehr“ (Gedichte; Wien 1960), „Unverlorene Zeit“ (Gedichte und Betrachtungen; Wien 1971) und „Rückblendung“ (Gedichte und Prosa; Wien 1981). Margarete Kollisch Nachbarlich Ich trat aus dem Haus. Die erste Nachbarin hielt mich an, fragte: „Wie geht's?“, sprach vom Wetter, ihren Gliederschmerzen, dem Einbruch im Nebenhaus, dem letzten Skandal. Die nächste sagte dasselbe. Ich nickte wieder, machte das richtige Gesicht, murmelte: „Schrecklich“, war froh, wenn sie mich losließ. Der übernächsten wich ich schon aus. Ich war eine schlechte Nachbarin, merkte mir keine Vornamen, verwechselte die Hausnummer, sogar meine eigene, probierte meinen Schlüssel an der falschen Haustür. Was riefen die Nachbarinnen hinter mir her? „Lauf nicht, laß dir doch Zeit!“ Sprach die eine zur andern: „Schade! Fremd, aber anständig — hochanständig, aber keine von uns.“ Aus: In welcher Sprache träumen Sie? Österreichische Exillyrik. Hg. von M. Herz-Kestranek, K. Kaiser, D. Strigl. Wien 2007. (Zuerst erschienen in M. Kollisch: Rückblendung. Gedichte und Prosa. Wien 1981.) Mai2012 27