OCR
aber schon viel gewonnen, wenn zumindest eine Liberalisierung der Prostitution verhindert werden könne. Die indigene kanadische Frauenorganisation Aboriginal Women‘s Action Network (AWAN) fordert die Einführung des schwedischen bzw. nunmehr nordischen Modells in Kanada. AWAN kämpfte gegen die von der Sexindustrie für die Olympischen Winterspiele 2010 geforderte Liberalisierung der Prostitution. „Wir sind der Überzeugung, dass eine Legalisierung [...] die Situation der prostituierten Frauen nicht sicherer machen, sondern bloß ihre Anzahl erhöhen wird.“ Der Druck auf Prostituierte würde steigen, Menschenhandel gefördert werden, Prostitution nur für die Hintermänner sicherer und profitabler werden. „Ein schadensminimierender Ansatz, der behauptet Frauen in Prostitution zu helfen, indem sie in den Indoor-Bereich in legale Bordelle kanalisiert werden, würde nicht nur nicht die Schäden reduzieren, deren sie ausgesetzt sind, sondern auch die eigentliche Gewalt verschleiern. Es gibt keinen Beweis, dass Indoor-Prostitution für die betroffenen Frauen sicherer wäre, sie ist vielmehr genauso gewalttätig und traumatisch. Gewalt ist der Prostitution inhärent, lediglich eine Fortführung der Gewalt, die die meisten prostituierten Frauen und Kinder bereits als Kinder erlebten.“ Dem widerspricht die Wiener Stadträtin für Integration und Frauenfragen, Sandra Frauenberger: „Indoor arbeiten, heißt sicher arbeiten.“® Damit wird das neue Wiener Prostitutionsgesetz, das am 1.11.2011 in Kraft trat, argumentiert. Es regelt den Straßenstrich neu — Straßenprostitution ist grundsätzlich nur noch außerhalb des Wohngebietes erlaubt, eine Steuerungsgruppe legte Kriterien für sichere Erlaubniszonen fest. In Bordellen soll der „ArbeitnehmerInnenschutz“ verbessert werden. Werden minderjährige Straßenprostituierte, die durch erwachsene Freier sexuell ausgebeutet werden, beim ersten Mal „erwischt“, brauchen sie keine Strafe mehr zahlen, sondern müssen zur Beratung beim Jugendwohlfahrtsträger. Freier, die mit Prostituierten außerhalb der erlaubten Zonen in Kontakt treten, müssen Strafe zahlen. Die Maßnahme wurde gegen den Widerstand der Grünen eingeführt und wird nach einem Jahr evaluiert. Kritik am Gesetz kam u.a. von Gerald Tatzgern, dem Leiter der Zentralstelle Schlepperkriminalität und Menschenhandel im Innenministerium: Vor allem Betreiber würden sich über das neue Gesetz freuen.” Als positiv muss gewertet werden, dass Prostitutionslokale nun einer behördlichen Meldepflicht unterliegen und ihre Schließung nicht mehr durch einen BetreiberInnenwechsel verhindert werden kann.'!? „Prostitution folgt dem Prinzip von Angebot und Nachfrage. Solange Männer diese Dienstleistung nachfragen, wird sie angeboten“, so Frauenberger. Genau an dem Punkt setzt Frankreich an: Müssen wir die Nachfrage als Fatalität akzeptieren? Am 6.12.2011'', nur einen Monat nach dem neuen Wiener Prostitutionsgesetz, verabschiedete das französische Parlament einstimmig eine Resolution für die Abschaffung der Prostitution. '” Die Sozialistin Danielle Bousquet präsentierte gleichzeitig einen Gesetzentwurf zur Kriminalisierung der Freier. „Es geht darum, den Bürgern eine Beziehung zwischen Männern und Frauen zu vermitteln, die auf Gleichheit und Respekt beruht“, sagte Bousquet.' Frankreich strebt mit den drei nordischen Ländern als Vorbild auch einen Paradigmenwechsel in der EU an. Denn obwohl Menschenhandel den Hintergrund von 90% aller Prostituierten bildet, werden allzuoft Prostitution und Menschenhandel fein säuberlich voneinander getrennt. Frauen, die dem Prostitutionssystem Widerstand leisten, werden als Prüde und Moralisten verunglimpft, so der Berichterstatter der parlamentarischen Kommission über Prostitution. „Prostitution und ihre Begleiterscheinungen wie Menschenhandel sind mit der Würde und dem Wert des Menschen unvereinbar - sind das die Worte von Prüden?“, fragt Guy Geoffroy. Nein, er habe eben aus der UN-Konvention von 1949 „zur Verfolgung von Menschenhandel und Ausbeutung der Prostitution anderer“ zitiert, die Frankreich 1960 ratifiziert habe. Die Unverfügbarkeit und Unveräußerbarkeit des menschlichen Körpers und seiner Teile oder seiner Produkte — Prinzipien von Prüden? Nein - französisches Recht seit 1960. „Seit die menschliche Gesellschaft die Höhlen verlassen hat, hat sie sich entwickelt. Prostitution hat keinen Platz in einem modernen Rechtsstaat, in dem die Sklaverei abgeschafft wurde und die Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern in der Verfassung verankert ist“'*, schreibt der französische Journalist Gerard Biard auf „Zeromacho“, einer Initiative französischer Männer zur Abschaffung der Prostitution und Kriminalisierung der Freier. „Weil wir für sexuelle Freiheit sind, werden wir keine Freier sein“, ist in der deutschen Übersetzung ihres Manifests zu lesen, zu dessen Unterzeichnung Männer aller Welt aufgerufen sind." Josephine Butler (1828 — 1906), eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der historischen Frauenrechtsbewegung, hatte bereits auf die zentrale Rolle der Männer als Käufer, Verkäufer und Mieter von Frauen hingewiesen. Butler führte erfolgreiche Kampagnen für die Rechte von Prostituierten (vor allem gegen den Contagious Diseases Act) und die Abschaffung der Prostitution an, sie baute dabei auf die Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei, in der sie ebenfalls aktiv gewesen war. Einige der berühmtesten Intellektuellen, die die Prinzipien eines säkularen Humanismus vertraten, schlossen sich ihrer Bewegung an: Victor Hugo und Jean Jaures. Sie betrachteten die Prostitution als moderne Fortführung der Sklaverei. „Man sagt, die Sklaverei sei aus der europäischen Kultur verschwunden. Das ist ein Irrtum. Sie besteht noch immer, aber sie lastet nur noch auf der Frau und heißt Prostitution“, schreibt Victor Hugo in Les Misérables (1862, Band I, Kapitel 5). An der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert war Osteuropa, allen voran Galizien, ein Hauptlieferant gehandelter Frauen. Bertha von Pappenheim, Sozialpionierin und Gründerin des Jüdischen Frauenbundes, löst mit ihrem Engagement gegen Frauen- und Mädchenhandel vor allem bei Männern Entrüstung und Empérung aus — solches habe anständige Frauen nicht zu bekümmern, außerdem wird ihr das Schüren von Antisemitismus vorgeworfen. '® Sie unternimmt zahlreiche Reisen nach Osteuropa und gründet in Deutschland ein Mädchenheim für von Prostitution und Menschenhandel bedrohte Kinder. Eines ihrer zentralen Anliegen ist eine gute Ausbildung für die Mädchen - sie selbst litt Zeit ihres Lebens darunter, im Gegensatz zu ihrem Bruder nur wenig Bildung erhalten zu haben. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind nur 4% der Prostituierten in Österreich aus Österreich. Der überwiegende Teil sind Migrantinnen, überwiegend aus dem ehemaligen Ostblock.'’ Die OSZE schätzt, dass 50-75% der Prostituierten in Wien Opfer von Menschenhandel sind.'? Viele der Opfer kommen aus den neuen EU-Mitgliedsländern und halten sich legal im Land auf — hier ist die Aufdeckung von Menschenhandel schwierig.” Wenn jedoch Aufklärungsprojckte erfolgreich initiiert und durchgeführt werden — in Italien konnten nach entsprechender Sensibilisierung von Gesundheitspersonal in der Policlinico Casilino in den Jahren 2008 bis 2011 123 Opfer identifiziert werden - heißt es wieder: „Was, nur so wenige?“ Mai2012 35