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Opfergruppe in Europa zählen die Roma, in Kanada Indigene. Dem Neoliberalismus liege eine „darwinistische Moral“ zugrunde, schreibt Poulin und spricht von einer „sexuellen Konterrevolution.“?' Statt Umverteilung und Gleichstellung wird das Recht auf sexuelle Selbstausbeutung gewährt. „Die Prostitution zählt in gewissen Staaten heute sogar zu einem Teil der ökonomischen Entwicklungsstrategie. Unter dem Druck von Schuldenrückzahlungsforderungen stehend, wurden zahlreiche Staaten der Dritten Welt von internationalen Organisationen wie dem IWF und der Weltbank — die aufgrund dessen dann wieder beträchtliche neue Kredite freigaben — sogar ermutigt, ihr ‚Nightlife‘ ... zu entwickeln“, schreibt Poulin. In Thailand erwirtschaftet die Sexindustrie bereits 14% des BIP. Einem solchen ökonomischen Machtfaktor entgegentreten zu wollen, scheint nahezu unmöglich. Fatalität erscheint als marktkonformer Realismus. Aus „jeder ist seines Glückes Schmied“ wird im Umkehrschluss „jeder ist seines Unglückes Schmied“. Mit der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Prostitution sei eine gleichberechtigte Erwerbstätigkeit, kam die Debatte über ein Menschenrecht auf Sex auf. Niederlande entschied positiv: „Sex auf Krankenschein“ ist erlaubt, Surrogatpartner fungieren als Ersatzpartner für Menschen, die aufgrund einer Behinderung Schwierigkeiten haben, Kontakte mit Frauen zu knüpfen, oder die sich z.B. aufgrund einer Potenzschwäche in Sexualtherapie befinden und niemanden haben, bei dem sie wieder Vertrauen schöpfen könnten. In Dänemark werden für Menschen in Altersheimen Kontakte zu Prostituierten hergestellt.” Häftlinge mit langen Haftstrafen in den Niederlanden können Kontakte mit sogenannten „Amazonen“ haben, um, bevor sie entlassen werden, „natürlichen“ Umgang mit Frauen zu üben.” Prostituierte würden Freier tatsächlich oft als „Patienten“ bezeichnen, sagt die Psychoanalytikerin und Juristin Rotraud A. Perner, die das Institut für Stressprophylaxe und Salutogenese leitet. Freier allerdings können — im Unterschied zu ihren Klienten — „in ihrer Lüge bleiben“. Ausgebeutet werden Prostituierte, die ohnedies schon verletzt sind. „Es macht mich wahnsinnig“, sagt Louise Eek, eine ehemalige Prostituierte aus Schweden, dass „sexuelle Bedürfnisse von Männern über den Menschenrechten von Frauen stehen.“ Dass es weltweit Prostitution seit Tausenden von Jahren gibt, beweise nur, wie unzivilisiert und unterentwickelt unsere Gesellschaften noch immer sind. „Wir müssen unsere Reflexion über die Verwendung des Terminus der freien Wahl durch Neoliberale vertiefen“, beschließt Attac Frankreich und schließt sich der Initiative Abolition 2012 an. Genauso wie die Abschaffung der Sklaverei ein Kampf für die Menschenrechte und nicht nur für die Rechte der Schwarzen war, ist die Abschaffung der Prostitution nicht nur ein Kampf für Frauenrechte, sondern für die Menschenwürde.“ Abolition 2012 listet alle französischen Abgeordneten auf, die sich für das Gesetz zur Freierbestrafung engagieren, wobei linke Parteien klar in der Mehrheit sind?® — eine Gemeinsamkeit mit der Abolitionsbewegung in Schweden, Norwegen und Island. In allen drei nordischen Ländern wurde das Gesetz unter sozialdemokratischer Führung eingebracht; in Norwegen stimmten gegen das Sexkaufverbot: Hoyre (Konservative), Venstre (Liberale), Frp (Rechtspopulisten). Der Kampf gegen Prostitution, so die schwedische Historikerin Trine Margrethe Rogg Korsvik, sei in Schweden und Norwegen auf die historische Arbeiter- und Frauenbewegung zurückzuführen. „Es herrschte Einigkeit zwischen allen radikalen Kräften der Frauen- und Arbeiterbewegung, weil man in der Prostitution die Ausbeutung armer Frauen durch reiche Männer sah.“ In Schweden, Norwegen und Island wurden mit dem SexkaufVerbot positive Erfahrungen gemacht: Die Prostitution ist zurückgegangen, die Bevölkerung steht mehrheitlich hinter dem Gesetz, unter den Männern vor allem die jungen zwischen 18 und 28 Jahren, grundsätzlich unterstützen mehr Frauen als Männer das Sexkauf-Verbot.“ Bjorn Lecomte von der norwegischen Organisation Menn mot salg av kropp, die sich in Zusammenarbeit mit der radikalfeministischen Frauenorganisation Oitar gegen das Freiertum und für egalitäre Männlichkeiten einsetzen, fordern nach kalifornischem Vorbild die Einführung von verpflichtenden einwöchigen Kursen für verurteilte Freier. „Es soll ein Kurs über Gleichberechtigung, Gender und Menschenwürde sein, mit PädagogInnen, ExpertInnen und ehemaligen Prostituierten, die erzählen, was Prostitution bedeutet. Strafe zu zahlen ist viel zu einfach.““! 178 Freier wurden in Norwegen seit Einführung des Gesetzes 2009 verurteilt, davon 84 im Jahr 2011. Im Herbst 2011 wurde mit Bärd Hoksrud von der rechtspopulistischen Fremskrittspartiet (FrP) zum ersten Mal ein norwegischer Mann verurteilt, der im Ausland Sex kaufte. Hoksrud war auf Sextour in Riga erwischt worden.“ Der Ökonom Andreas Kotsadam verglich für seine Doktorarbeit verschiedene europäische Länder und fand eine „äußerst klare Tendenz“: „Am wenigsten Menschenhandel gibt es in den Ländern mit einem Verbot, wie in Schweden, am meisten in den Ländern, wo Prostitution ein Teil der legalen Wirtschaft ist, wie in den Niederlanden, in Griechenland und in Deutschland. “** Rachel Paul von der norwegischen Ombudsstelle für Integration und Gleichstellung, die aus dem Süden Indiens stammt und jahrelang im Nahen Osten, insbesondere im Irak, mit Frauenorganisationen arbeitete, sicht in der historischen Erfahrung der Prostituierten einen Grund, warum Frauenorganisationen in armen Ländern skeptisch seien: Sie haben Angst, dass der Gesetzgeber beide Seiten, auch die Opfer von Prostitution, kriminalisieren würde. „Und wir wissen, wie das endet.“ Mit der Organisation Apne Aap aus Indien tritt jedoch eine der wichtigsten internationalen Selbsthilfeorganisationen in einem armen Land für das nordische Modell ein. „Die Frauen von Apne Aap rufen alle MenschenrechtsaktivistInnen auf, ihre Ausbeutung nicht als Arbeit zu akzeptieren“, appelliert ihre Gründerin Ruchira Gupta im Namen der 10.000 „Überlebenden von Prostitution“ (Survivors of Prostitution), die sich in Apne Aap zusammengeschlossen haben.“ 70% der Prostituierten, so die internationale Studie von Melissa Farley, entwickeln eine posttraumatische Belastungserkrankung (PTSD), unabhängig davon, ob sie im Outdoor- oder Indoor-Bereich arbeiten. Symptome sind u.a. Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses, Ohnmachtsgefühle, Flashbacks, Schlafstörungen, Hypervigilanz, erhöhte Schreckhaftigkeit. PTSD stellt einen Versuch des Organismus dar, eine traumatische oder lebensbedrohliche Situation zu überstehen. (Eine besonders schwere Form der PTSD ist das sogenannte KZ-Syndrom bei Überlebenden der Shoah). Neurowissenschaftler der Universität Utrecht zeigen, dass PTSD-Patienten ungewöhnlich schwach auf physischen Schmerz reagieren.‘ Judith Trinquart, Ärztin und Mitglied der französischen Vereinigung Memoire Traumatique et Victimologie erklärt, dass durch die der Prostitution inhärente Gewalt Frauen zu „Dissoziation“ gezwungen sind, durch die sich die prostituierte Person sukzessive von der privaten Person abspaltet. Auf körperlicher Mai2012 37