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Vorbemerkung Die Frauen-Arbeitsgemeinschaft (FrauenAG) der Österreichischen Gesellschaft für Exilforschung (öge) hatte mit folgenden Worten zu einer Tagung aufgerufen: Neuere Tendenzen in der Exilforschung zeigen einen Paradigmenwechsel von der ausschließlichen Befassung mit dem historischen Exil während der Ära des Nationalsozialismus bzw. des Austrofaschismus hin zu einer Erweiterung des Forschungsgegenstands auf die gegenwärtigen Flucht- und Migrationsbewegungen. Als Forscherinnen, die sich mit der Vertreibung rassistisch und politisch Verfolgter in der Ara des Nationalsozialismus befassen, wollen wir uns die Frage nach geschichtlichen Kontinuitäten stellen. Gibt es vergleichbare Aspekte zwischen dem Exil von Frauen in der Periode 1933-85 und dem Asyl von Frauen heute, was sind die Gemeinsamkeiten, was die Unterschiede? Es geht uns dabei auch um die „existentiellen“ Fragen (Bewältigung des Alltags im Exil, Sprachproblematik, kulturelle Dissonanz, Traumatisierung). Ist der Beitrag zur Erinnerung an die Verfolgung konstitutiv für unsere Haltung gegenüber heutigen Fluchtbewegungen und führt die eigene Flüchtlingserfahrung, sei es zur Zeit der Schoa, sei es in den Jahren nach 1945, zu praktizierter Solidarität mit den heute Verfolgten? Aufder Tagung, die in Kooperation mit dem Institut für Wissenschaft und Kunst/biografiA und dem Institut für Österreichkunde am 17. Juni 2011 in Wien stattfand, wurden in neun Referaten und einer Podiumsdiskussion sowohl existentielle Fragen des Exils thematisiert, als auch die persönlichen Erfahrungen von Flüchtlingen verschiedener Generationen artikuliert. In ihrem Einleitungsreferat diskutierte die Historikerin und Exilforscherin Siglinde Bolbecher die Begriffe Exil und Migration, die sich weder ausschließen, noch durcheinander ersetzbar sind. Sie ging auf die Verschiebung von Fragestellungen der wissenschaftlichen Exilforschung seit ihren Anfängen in den 1970er Jahren ein, die ja zunächst auf die politischen Manifestationen des Exils fixiert war. Die Frage nach der Rolle der Frauen im Exil trug mit dazu bei, die existenziellen Bedingungen des Exils (und einer möglichen Rückkehr) auch für die Zeit nach 1945 zu erforschen und auch die nächste Generation, die Kinder der Exilierten, einzubeziehen. Für die Tagung erhoffte sie sich, dass die Analysen und politischen Einsichten der historischen Exilforschung für die Exilproblematik der Gegenwart fruchtbar gemacht werden könnten, durch ein besseres Verständnis der Zusammenhänge, aber auch durch die Fundierung der Kritik an heutigen Praktiken. Die Historikerin und Autorin Gabriele Anderl gab in ihrem Vortrag Organisierte Vertreibung: die jüdische Auswanderung aus Österreich während der NS-Zeit einen Überblick über die Vertreibung der jüdischen Bevölkerung, deren wirtschaftliche Ausplünderung, und die Rolle der Zentralstelle für jüdische Auswanderung. Die Vertreibungsmaßnahmen wurden ohne Rücksicht auf die kaum vorhandene Aufnahmebereitschaft der übrigen Länder der Welt forciert. In seinem Vortrag über Die Entwicklung des Asylrechts in Österreich gab der Jurist und Asylrechtsexperte Joachim Stern einen 40 ZWISCHENWELT Überblick und eine Analyse der Entwicklung des Asylrechts in Österreich seit dem Zweiten Weltkrieg. Er stellte die Grundbegriffe des Flüchtlingsrechts ebenso dar wie die Kernprobleme des Fremdenrechtsanderungsgesetzes. Die Journalistin und Zeithistorikerin Traude Bollauf ging in ihrem Vortrag Wie das Leben Erinnerungen formt. Am Beispiel von 1938/39 als Hausgehilfinnen nach England geflohenen jüdischen Frauen an Hand von Beispielen darauf ein, wie die verschiedenen Lebenssituationen der Frauen, vor, während und nach der Flucht, die Erinnerung und vor allem die Bewertung des Exils beeinflussen. Die Psychotherapeutin und Mitarbeiterin von Hemayat Friedrun Huemer beschäftigte sich in ihrem Referat Flucht und Trauma. Die Situation der Frauen aus psychosozialer und psychotherapeutischer Sicht mit der Begriffsdefinition Trauma und den psychischen Auswirkungen von Verfolgung, Folter und Krieg. Primavera Driessen Gruber, Erforscherin des Lebens und Werks der NS-verfolgten Musikschaffenden und Griinderin des Orpheus Trust, ging in ihrem Vortrag (Uber-)Leben. Musik. Resilience ausgehend von Fallstudien der Frage nach, welche Rolle die Musik im Überleben mit Traumatisierungen während und nach der NS-Verfolgung spielt, welche Auswirkungen Musik als therapeutisches Element für die Entwicklung von „Resilience“ (seelischer Stabilität, Spannkraft) hat und welche Erkenntnisse zur Wirkung von Musik in die aktuelle Migrationsforschung einfließen könnten. Die Asyl-und Migrationsrechtsexpertin Anna Wildt erläuterte in ihrem Referat Geschlechterstereotypen im Asylverfahren die Auswirkungen von Rollenzuschreibungen an weibliche Asylsuchende und die Hürden für Frauen, eine gendergerechte Auslegung und Beurteilung ihrer Fluchtgründe zu erlangen. Die Historikerin Corinna Oesch gab in ihrem Vortrag Flucht und Exil im Kontext der Internationalen Liga für Frieden und Freiheit 1933-1945 einen Einblick in transnationale Beziehungen und Netzwerke von Frauen, die sich sowohl in konkreter Fluchthilfe, als auch in politischen Lösungsansätzen auswirkten. Anny Knapp, Expertin für Asylrecht und Obfrau der Asylkoordination Österreich, berichtete in ihrem Vortrag Struktur und Herausforderungen der Flüchtlingsarbeit über die praktische Arbeit mit Asylwerbenden und die Arbeit mit jugendlichen unbegleiteten Flüchtligen und den schwierigen Umgang mit den Behörden. Den Abschluss der Tagung bildete eine Podiumsdiskussion unter der Leitung der Journalistin und Historikerin Joanna Radzyner mit Exilantinnen aus der Zeit des NS-Regimes und Exilantinnen, die heute in Österreich leben. Gefördert wurde die Tagung von Wien-Kultur, Wissenschafts- und Forschungsförderung, vom Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus und der Theodor Kramer Gesellschaft; die vorliegende Publikation der Ergebnisse wurde durch Wien-Kultur, Referat Stadtteilkultur und Interkulturalität, mit ermöglicht. Wir danken.