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Sie war nie wieder in Polen. Ihre Töchter reisten nach dem Tod der Mutter nach Polen und besuchten Bialystok. Es war ihnen ein großes Bedürfnis, diese Beziehung zu Bialystok, dem Geburtsort ihrer Mutter, fortzusetzen. Die ältere Tochter arbeitet heute in Santiago für die Erinnerung an diese jiddische Welt ihrer Mutter. Eine Überlebende aus Wien Sie wurde in ihrem Elternhaus im 9. Bezirk geboren. Beide Eltern waren gebürtige Wiener. Sie hatte den Namen ihrer ungarischen Großmutter aus Kolosvar. Ihr Elternhaus sieht sie noch vor sich: die schönen alten Möbel, das kostbare Porzellan, die wertvollen Bilder an der Wand, das Klavier, die hohen Zimmer der alten Wiener Wohnungen, die Kachelöfen. Ihre Mutter hatte das Klavierstudium am Konservatorium erfolgreich abgeschlossen. Musik hat das Familienleben geprägt. Sie lernte Modezeichnerin und begann früh zu arbeiten. Im April 1935 heiratete sie im Tempel Seitenstettengasse einen um 24 Jahre älteren Zahnarzt. Sie wohnten in der Bartensteingasse in einer schönen alten Wohnung, die mit Möbeln aus dem Dorotheum eingerichtet wurde. Ihr Mann arbeitete im 1. Weltkrieg als Zahnarzt an der Front und spezialisierte sich auf Minenverletzungen. Wien war ihm alles. „Wir haben keine körperlichen Angriffe erlebt, außer dem ersten Stiefeltritt der Nazis auf das Zahnarztdiplom meines Mannes“ — daraufhin, erzählte sie, brach ihr Mann zusammen und seine Seele erholte sich nie wieder. Sie verließen Europa im September 1938. Im Koffer nahmen sie Garderobe und Teppiche mit. Einige sind noch heute vorhanden. Als sie eines Tages in der Früh in Buenos Aires ausstiegen und kein bekanntes Gesicht zu schen war, hat sie sich gesagt: „Hier muß es mir gefallen.“ Von Buenos Aires aus „weinte sie die ganze Familie herbei...“ Auch ihr hat Musik geholfen, das Exil in Argentinien zu überleben. Gemeinsam mit anderen Emigranten führte sie Stücke aus der Heimat in der „Freien Deutschen Bühne“ auf wie zum Beispiel „Das Dreimäderlhaus“ — so hat sie abends gesungen. Untertags arbeitete sie nach einiger Zeit als Modezeichnerin. Ihre Heimat ist die Musik und nun im Alter, in Chile, findet sie in den vielen Konzerten ihren größten Halt. In ihrer Wohnung in Santiago saßen wir in ihrem Speisezimmer mit vielen Bildern aus Wien, einem schr guten Kaffee und der Tischdecke und dem Porzellan aus Wien. Sie hat sich dort „ihr Wien“ eingerichtet. Hier sprachen wir über ihre Beziehung zu ihrem Geburtsort und ihren Versuchen, sich diesem zu nähern. Diese „Rückkehr“ ist ein langer Weg, ein Prozess mit vielen Ängsten, Sehnsüchten, schrecklichen Erinnerungen und ist auch ein sich dem langersehnten Frieden Nahern. Das erste Wiedersehen beschrieb sie so: „Da war ich schon in Pension und wollte mit meinem zweiten Mann nach Wien reisen. Ich wollte es ihm zeigen. Erst in dem Augenblick konnte ich mir Rechenschaft geben, wie schr wir aus der Bahn geschleudert worden sind. Am Anfang gab es keine Zeit, darüber nachzudenken, weil man im Kampf gestanden ist. Ich hatte meinem Mann gesagt, daß ich für Wien drei Wochen brauche. Am dritten Tag sagte ich ihm: Nur fort von hier! Erst an der italienischen Grenze habe ich wieder aufgeatmet. Ich konnte es nicht verdauen. Ich habe es gar nicht so schön gefunden, obwohl es schön war. Es war für mich eine fremde Stadt. Ich habe in den Gesichtern die braunen und schwarzen Uniformen der SA- und SS- Männer geschen. Eine Freundin erzählte mir: Wie sie in ihr Haus nach Wien zurück kam, wohnte noch die gleiche Hausbesorgerin da und sagte „Na so was und Sie sind nicht vergast worden?“ Das zweite Wiedersehen war mit einer Gruppenreise Paris — Moskau — Prag — Budapest — Wien. Es war fiir sie nicht so aufwühlend, weil die Gruppe sie trug und beschützte. Das dritte Wiedersehen geschah auf Wunsch der Schwiegertochter, die die Heimat der Schwiegermutter kennen lernen wollte. Da ging es ihr schon etwas besser und sie konnte endlich weinen. Das vierte Wiedersehen war eine Einladung des Jewish Welcome Service im März 2002. Der liebevolle Empfang war Balsam für ihre Seele. Sie wurden alle in die Hofburg eingeladen. Ein unvergeßliches Erlebnis war für sie, daß der Bundespräsident laut und deutlich sagte: „Sie sind Bürger dieses Landes.“ Noch einmal empfand sie den großen Schmerz und dann kehrte Friede in ihre Seele ein. Dieses letzte Wiedersehen - eine Einladung des offiziellen Österreich — haben wir in vielen Stunden in dem „Wiener Speisezimmer“ in Santiago de Chile immer wieder besprochen. Sie sah jetzt, wie notwendig für sie diese Einladung war und wie schr sie durch die Worte des Bundespräsidenten berührt war. Diese Reise führte sie wirklich zurück. Sie bat mich, zu Leon Zelman zu gehen und ihm noch einmal für alles zu danken. Er war sehr bewegt von ihren Grüßen und der Rückmeldung und sagte: „Ich will ihnen geben ein bißchen Liebe, das ist mit keinem Geld zu ersetzen — die offizielle liebevolle Einladung.“ Aus all diesen Gesprächen über die so schwierige Beziehung zu dem Herkunftsort ist die Idee einer jüdischen Kulturbrücke zwischen Chile und den Herkunftsorten entstanden und wird gemeinsam mit der Rehabilitationsabteilung der Villa Israel gestaltet und dank der Subventionsgeber in Österreich verwirklicht. Heidi Behn, geb. 1946 in Valparaiso (Chile), studierte Sozialarbeit an der Universidad Catolica de Santiago. In Wien zur Gesprächstherapeutin ausgebildet. Seit 1998 Tätigkeit in der Villa Israel in Santiago de Chile. Verfaßte die Bücher „Der verlorene Schlüssel“ (2006) und „Sag niemals, du gehst den letzten Weg. Fragmente europäisch-jüdischer Lebensgeschichten in Chile“ (zusammen mit Jose Oksenberg und Willy Weisz; Wien 2008). Literatur T. Burghardt, D. Schmidt: Jüdische Literatur Lateinamerikas. Literaturmagazin Nr. 42. Hamburg: Rowohlt 1998. Diaszpora (és) Miivészet/Diaspora (and) Art. Magyar Zsido Müzeum/Hungarian Jewish Museum. Budapest 1997. Adam Dylewski: Where the tailor was a poet. Polish Jews and their culture. Krakéw 2002. M. Fuks, Z. Hoffman, M. Horn, J. Tomaszewski: Polnische Juden. Geschichte und Kultur. Warszawa 1982. Hans Keilson: „Wohin die Sprache nicht reicht“. Vorträge und Essays aus den Jahren 1936-19976. Gießen 1998. Hans Keilson: Sprachwurzellos. Gedichte. Gießen 1986. Nathan Durst: Einsamkeit im Alter. In: Louis M. Tas, Jörg Wiesse (Hg.): Ererbte Traumata“. Göttingen, Zürich 1995. Mai2012 55