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BERICHTE Christel Wollmann-Fiedler Eine erneute Reise nach Europa traute sich die dreiundneunzigjährige alte Dame zu. Nach Berlin kam sie mit ihrer Begleitung, hatte Termine, traf Menschen in dieser Stadt, eröffnete eine Ausstellung, hatte eine Lesung, und nach Dessau ins Bauhaus reiste sie zu einer Tagung, zu der sie eingeladen war. Weit über dreißig Personen wurden zu ihren Ehren nach Charlottenburg eingeladen. Viele Gäste kannten sie, andere wollten sie kennenlernen. Butterbrezeln und guten Wein gab es. Die Unterhaltungen über Gott und die Welt waren interessant. Künstlerinnen aus dem 4. Lexikon von Hedwig Brenner waren aus den USA und anderen europäischen Ländern angereist, natürlich auch aus Israel. In der Inselgalerie eröffnete Hedwig Brenner eine große Ausstellung mit dem Titel „Zerstreut in alle Welt — Jüdische Künstlerinnen zu Gast in der Inselgalerie.“ 25 Künstlerinnen waren von der Galerie eingeladen worden, schickten ihre Kunstwerke in die Torstraße, einige von ihnen kamen persönlich zu dem großen Ereignis nach Berlin. Ilse-Maria Dorfstecher, die Leiterin der Inselgalerie in Berlin-Mitte, hatte bereits im vorigen Jahr die CD mit Werken von Künstlerinnen aus dem 4. Lexikon gesehen und entschied damals ganz spontan, eine Ausstellung zu machen. Der Termin wurde festgelegt, Hedwig Brenner zur Eröffnung eingeladen, ein Ausstellungskatalog wurde mit viel Mühe in deutscher und englischer Sprache gedruckt. Am Eröffnungsabend war ein Dolmetscher zur Stelle, der den englischsprachigen Kiinstlerinnen das Erzählte übersetzte. Ein großes, einmaliges Ereignis war diese Ausstellung in Berlin. Nie zuvor hatte es so etwas gegeben an der Spree, und Hedwig Brenner, die Kennerin und Erfinderin der Lexika, flanierte inmitten der Menge. Bei ihrer Freundin Ria Gold, der neunundneunzigjährigen Czernowitzerin, war Hedwig Brenner zum Essen eingeladen. Erinnerungen an die Bukowina und die Stadt ihrer Herkunft wurden ausgetauscht. Der Rundfunk rbb nahm ein Interview mit Hedwig Brenner auf, und in einer Kultursendung wurde sie vorgestellt. Nach Dessau fuhr Hedwig Brenner mit ihrer Begleitung, um an der Tagung ,,Entfernt: Frauen des Bauhauses wahrend der NS-Zeit — Verfolgungund Exil“ teilzunehmen. In den drei Tagen haben über 15 Wissenschaftlerinnen, Historikerinnen, Germanistinnen über Künstlerinnen am Bauhaus referiert. Rahel Feilchenfeldt kam aus München und sprach über „Die jüdischen Künstlerinnen am Bauhaus und ihre Darstellung in Hedwig Brenners vierbändigem Verzeichnis ‚Jüdische Frauen in der Bildenden Kunst‘ (1998 — 2011)*. Es folgte ein sehr schéner und wie immer interessanter Vortrag von Hedwig Brenner tiber ihre „unkonventionellen“ Lexika- eine Bezeichnung, die die Autorin selbst gewählt hat. Für die teilnehmenden Wissenschaftlerinnen war das sicherlich ein großes Ereignis, diese interessierte, wissende und fleißige alte Dame kennenzulernen und erzählen zu hören. Im Bauhaus in Dessau über ihre jahrelange Arbeit sprechen zu dürfen, war für Hedwig Brenner eine große Ehre. Ein Buch über die Bauhauskünstlerin Gunta Stölzl wurde ihr als Dank überreicht. Kurz vor dem Abreise nach Israel fand in der Inselgalerie zur oben erwähnten Ausstellung ein Beiprogramm statt. In der Einladung zu dem Abend stand: Hedwig Brenner stellt neue Bücher vor „Mein altes Czernowitz“, Band 4 „Jüdische Künstlerinnen in der Bildenden Kunst“ und Hedwig und Gottfried Brenner „Zum Andenken und Nachdenken“, Kurzgeschichten, Lyrik und Malerei aus Czernowitz und Israel. Mit einem gut halbstündigen Dokumentarfilm wurden Hedwig Brenner und auch das Publikum überrascht. Ich selbst hatte über mehrere Jahre die Begegnungen mit Hedwig Brenner gefilmt. 24 Kassetten waren zusammengekommen, die von Sylvia Rademacher zu einem kleinen Film geschnitten und zusammengefügt worden waren. Hedwig Brenner wurde 1918 in Czernowitz geboren, lebte dreißig Jahre im Petrolgebiet in Ploiesti, vor 29 Jahren verließ sie mit ihrer Familie Rumänien und wanderte ins Gelobte Land Israel ein. Sehr spät begann sie zu schreiben. Die alte Schreibmaschine hatte ausgedient. Ihr Enkelsohn brachte ihr das Arbeiten mitdem Computer bei. Sie schrieb zwei Familienbiicher, Leas Fluch und Mein 20. Jahrhundert, beide erschienen im munda-Verlag in Brugg/Schweiz. Im letzten Jahr kam ganz en passant das Buch Mein altes Czernowitz, zustande und wurde im Hartung-Gorre- Verlag Konstanz, gedruckt. Das 1. Lexikon ihrer Reihe Jüdische Frauen in der bildenden Kunst wurde 1998 vorgelegt. Im Frühjahr 2011 erschien bereits das 4. Lexikon. Recherchiert hat Hedwig Brenner in der ganzen Welt über mehrere Jahre, um diese über tausend künstlerischen Lebensbilderzusammenzubekommen. Längst gestorbene, in Konzentrationslagern umgekommene, noch lebende junge jüdische Künsderinnen aus aller Welt vereinte sie in diesen vier Bänden. Eine großartige Arbeit hat die 93-jährige Hedwig Brenner für die Zukunft geschaffen. In ihrer deutschen Muttersprache schreibt Hedwig Brenner. Mit ihrem verstorbenen Mann sprach sie sechzig Jahre Deutsch. Als Jüdin überlebte sie die uns allen bekannten Gräuel der Nazizeit, seit 29 Jahren wohnt sie in Haifa am Rande des Existenzminimums. Juden sind nicht immer reich, wie viele Vorurteile in Deutschland meinen. Ihrem vor zwölf Jahren verstorbenen Ehemann wollte sie an ihrem produktiven Schriftstellerleben teilhaben lassen und in Windeseile gab im August 2011 Professor Wiehn in Konstanz das Büchlein: Zum Andenken und Nachdenken, Kurzgeschichten, Lyrik und Malerei aus Czernowitz und Israel von Hedwig und Gottfried Brenner heraus. Zusammengetragen und zusammengefasst ist in diesem Buch das literarische Leben des Ehepaares Hedwig und Gottfried Brenner. Ein literarischer Schatz ist entstanden. Am 30. Oktober 2011 wurde Hedwig Brenner durch den deutschen Bundespräsidenten das Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen. Die Ordensübergabe fand im Februar 2012 in Israel statt. Mai 2012 69