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REZENSIONEN Über den Mord an 223 ungarisch-jüdischen Kindern, Frauen und Männern im Hofamt Priel in der Nacht vom 2. auf den 3. Mai 1945 haben Eleonore Lappin, Marianne Enigl und Manfred Wieninger selbst bereits in mehreren Aufsätzen berichtet. (Vgl. u.a. M. Wieninger: Revierinspektor Winkler und das absolute Böse. In: ZW Nr. 1-2/2010, S. 4-6). Wieninger nennt es „eines der größten ungelösten Rätsel der österreichischen Kriminalgeschichte“. In leerstehenden Baubaracken des kaum begonnenen Donaukraftwerkprojekts Persenbeug wurde im April 1945 ein Auffanglager für aus Wien und Straßhof in Fußmärschen nach Westen getriebene jüdische ZwangsarbeiterInnen eingerichet. Für Bewachung und notdürftige Versorgung wurde der Gendarmerieposten in Persenbeug verantwortlich gemacht, und da wieder der eben hierher versetzte Revierinspektor Winkler, der nach dem Verschwinden des Postenkommandanten die Befehlsgewalt ausiibte. Das Lager blieb nachts unbewacht, und so konnte eine kleine SS-Einheit mit Unterstützung unidentifiziert bleibender einheimischer Helfer das Lager in tiefer Nacht überfallen und seine Insassen an eine zuvor gewählte Mordstätte Zwei Wege ein Ziel Wie bereits der Untertitel des Buches der Reihe anders erinnern signalisiert, geht es um „zwei Frauenschicksale zwischen Wien und Jerusalem“. Bei dem einen handelt es sich um das der Schriftstellerin Gerda Hoffer, bei dem anderen um um das der Politikerin Judith Hübner. Beide 1921 in Wien geboren, repräsentieren sie zwei Lebenswege und zwei Facetten des Judentums, einen liberalen wie einen orthodoxen Zweig. Von ihren jeweiligen Erfahrungen und über ihren getrennten Weg nach Jerusalem, wo sie zu Freundinnen wurden, berichten sie in ihren Erinnerungen. Während Gerda, Tochter des Schriftstellers und Romanciers Stefan Pollatschek, in einer assimilierten jüdischen Familie aufwächst und ihre „ersten Begegnungen mit dem Judentum mit ... feierlich gedeckten Tischen, Wein, schulfrei“ verbunden waren, stammt Judith aus einer galizischen Familie, die die Religionsgesetze streng einhielt und zionistisch eingestellt war. Anschaulich und nicht ohne Humor und feine Ironie schildert Gerda Station um Station ihres Lebens. Mit vier Jahren erfährt sie den Schrecken verbreitenden Antisemitismus, mit dreizehn erlebt sie die Februarkämpfe und mit sechzehn wird sie als Mitglied der 74 ZWISCHENWELT im unweit gelegenen Hofamt Priel bringen. Nur sechs Personen überlebten. Kenntnisreich und mit verhaltener sprachlicher Brillanz schildert Wieninger das Netz der Verantwortungslosigkeiten, das angesichts der unaufhaltsam vordringenden Roten Armee zwischen Amtstragern in der Bezirkshauptstadt Melk, der Gauhauptstadt Krems und der Kleinstadt Persenbeug gesponnen wird. In der Figur des Gendarmen Winkler entwirft Wieninger das überzeugende Bild eines noch in der K.u.K.-Zeit ausgebildeten Polizeibeamten, der zwar ebenfalls versucht, sich der Verantwortung zu entziehen, aber dennoch sofort — noch vor dem endgültigen Zusammenbruch der Naziherrschaft — mit der Aufnahme des Tatbestands und mit der Ausforschung der Täter beginnt, mag nun sein Motiv die Furcht vor späterer Rechenschaft oder aber eingefleischtes Rechtsdenken und zur zweiten Natur gewordenes Gendarmeriereglement gewesen sein. Auch viele Jahre später noch bemüht sich Winkler um eine Wiederaufnahme des von diversen Staatsanwälten hin- und hergeschobenen, schließlich eingestellten Verfahrens. Es gab Zeugen des Verbrechens, die von Winkler befragt wurden, es gab handfeste Vermutungen, von wo die SS-Mörder gekommen seien. Spätere Nachforschungen trugen kommunistischen Jugendbewegung verhaftet und eingesperrt, verraten von einem passionierten Antisemiten unter den Genossen. „Als Exsträfling konnte ich nicht in die Schule zurückkehren.“ Ihrer Arbeit als Lehrmädchen in einem Kosmetiksalon konnte sie bis zum Tag der „Befreiung Österreichs“ und der Arisierung des Salons nachgehen. Als „Schock“ empfinden ihre Eltern und sie die Tage danach, sie meinen, sich in einer fremden Stadt zu befinden: „Ein Visum, egal wohin, nur raus aus dieser Hölle war unser dringendstes Begehren.“ Über Prag fliehen sie nach London, wo Gerda zunächst als Kindermädchen und dann als Schuhverkäuferin ihren Lebensunterhalt verdient. 1942 heiratet sie den Rechtsanwalt Friedrich Hoffer, einen Cousin des Psychoanalytikers Willy Hoffer. In dem gleichen Jahr verliert sie ihren Vater. Mit Hilfe der Theodor Kramer Gesellschaft wird sie 2004 ihres Vaters „größtes Buch ‚Doktor Ascher und seine Väter‘ “, dessen Thema die Kontinuität der Judenverfolgungen ist, herausgeben. Nach der Heirat wird ihr Mann zum Militärdienst eingezogen und sie arbeitet als Fabrikarbeiterin. Für einige Jahre besteht der Kontakt zwischen ihnen nur aus Briefen. Gegen Ende des Krieges fassen beide den dagegen cher zur Verwischung der Spuren und zum Verschwinden von Beweisstücken bei. Als das eigentliche Rätsel österreichischer Kriminalgeschichte erweist sich das Verhalten der Nachkriegsjustiz. Manfred Wieninger hat ein feines Gespür dafür, daß wir unter straflos gebliebenen Mördern und deren Nachkommen leben, welche meist mit ihren Eltern oder Großeltern nicht gebrochen haben, sich bestenfalls in einer recht allgemeinen Distanzierung von jener „grauenhaften“ Zeit ergehen. Doch Wieninger findet auch Menschen, die sich dagegen stellten, die eines Erbarmens fähig waren, wie der Bauer Georg Forsthofer, der sein Handeln in der Stelle aus dem Evangelium des Matthäus begründet findet: „Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen.“ Seltsam: Es ist ein spannendes Buch, das man ungern aus der Hand legt, ehe man es ausgelesen hat. Und es ist ein Buch, d.h., es ist da Zusammenhang, Konsequenz, Verknüpfung der Fäden, Sprache. K.K. Manfred Wieninger: 223 oder Das Faustpfand. Ein Kriminalfall. St. Pölten, Salzburg, Wien: Residenz 2012. 235 S. Entschluss, nicht nach Wien zuriickzukehren, zu stark klingt in ihren Ohren das „Jude verrecke“ nach. Nach dem Krieg versuchen beide Engländer zu werden: Fritz ist erfolgreich in einer Kanzlei, sie als Erste Verkäuferin in einem Geschäft in der Oxfordstreet. Aber „zu Nachbarn hatten wir fast keinen Kontakt ... genau so ... mit Arbeitskollegen. Alle waren äußerst höflich, ... aber stets ließ man uns fühlen, dass wir nicht ‚dazugehörten‘.“ Jahre später, auf der Fahrt zu einer ehemaligen Schulfreundin, die in einem Kibbuz lebte, reift in ihr der Gedanke, „mein Leben einmal in Israel zu verbringen“, um nie wieder das Gefühl schrecklicher „Recht- und Schutzlosigkeit“ erleben zu müssen. Und das Studium Vergleichender Religionsgeschichte, das sie aus einem „Minderwertigkeitsgefühl“ ihrem akademischen Bekanntenkreis gegenüber aufnimmt und um nicht „der Dorftrottel unter ihnen zu sein“, hilft ihr, ihre eigene Religion richtig schätzen zu lernen. Nach dem Tod ihres Mannes 1978 lässt sie sich in Israel nieder und beginnt, „eine Schriftstellerin in Jerusalem“ zu werden. Bücher wie „Nathan Ben Simon und seine Kinder“, „Zeit der Heldinnen“ und „Ein Haus