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erhobenen Anspruch auf Innovation, der häufig der Abgrenzung dient. Falsche Periodisierungen gehören leider nach wie vor zur literaturwissenschaftlichen Routine und generieren Vorurteile gegen „Dichter der Zwischenkriegszeit“ wie gegen Theodor Kramer (wo doch der größere Teil seines Werkes in den 18 Jahren seines Exils entstanden ist) oder Hermynia Zur Mühlen [...] Obwohl die große Masse der Exilliteratur nach 1945 entstanden ist — paralllel zur ganzen österreichischen Nachkriegsliteratur — wird Exilliteratur vielfach zuerst mit Zwischenkriegs- und Kriegszeit assoziiert. Der langen Nachkriegszeit und ihrer Kultur steht man heute kritischer gegenüber — und mancher Mythos, z.B. um die „Gruppe ‚48°, ist angekratzt. Aber das Begriffsregime der normativ verstandenen Moderne und des avantgardistischen Formexperiments hatte die Literaturgeschichtsschreibung und -rezeption lange fest im Griff. Unter dem Schirm der „Moderne“ regen sich ja die verschiedensten Intentionen: Während in Jean-Paul Satres „lemps Modernes“ 1946 ein Bericht über die Juden-Razzia in Rom 1943 erschien, fand man es in Österreich vielfach moderner, solche Berichte aus der „Vergangenheit“ weder zu schreiben, noch zu publizieren. [...] Warum muß gerade diese Epoche abgeschlosen erscheinen, wo wir uns anderen Epochen gegenüber immer wieder offen zeigen und ihnen mit Neugier begegnen? Von der Antike, die manchmal sehr eurozentristisch erfaßt wird, bis zum Barock und dem Fin de siecle. Niemand muß sich dafür verantworten, über Expressionismus zu arbeiten. Unsere Arbeit hat sich im Dialog mit den Exiliierten und Verfolgten entwickelt. Neben den ihren haben wir unsere Beiträge publiziert - ein diskursiver Prozeß. Sie haben auch uns (wohl im geringeren) Maße wahrgenommen; auch etwas mißtraurisch. Denn für das Exil war das Unternehmen TKG nicht mehr ganz so fruchtbar, da in vielem zu spät gekommen; und das Zu-spät und Warum-erst-jetzt wurde beklagt. [...] Was wir von Exiliierten gelernt haben, gelernt von den gebrechlichen Einrichtungen der Welt, was von ihnen kam, war nie totes Dokument. [...] Im hohem Maße waren wir all die Jahre mit schrecklichen Dingen, die Menschen widerfahren sind, konfrontiert — dies war nicht zu beschönigen. [...] Aber auch die grauenvollste Geschichte darf nichtaallein Grauen erregen. Sie muß im Schlimmsten wie im Besten zugänglich werden. Nie mit Schrecken schreken, sondern annehmen - statt zu distanzieren. |...] Ein gewisser Erinnerungsstrom hat sich durch die Tätigkeit der Theodor Kramer Gesellschaft stabilisiert, obgleich diese umtriebige Tätigkeit unter den schwierigsten materiellen Bedingungen und deren Ergänzung durch selbstlosen Einsatz vollführt wurde. Im Hintergrund hat uns unser Schutzpatron, Theodor Kramer, supervidiert — mit seiner Redlichkeit, mit seiner an Unverschämtheit grenzenden Offenheit in vielen Dingen, seiner Abneigung gegen das Phrasenhafte, wo Leute, statt einfach auf ihren Füßen zu gehen, sich auf den Zehenspitzen recken. Es bleiben Fragen. Wir sind nicht gefeit davor, daß sich Verdrängungsmuster fortsetzen. Wann handelt es sich um eine berechtigte Abwendung von einem obsessiven Bedenken eines jetzt schon längst Vergangenen? Gibt es ein Recht auf Vergessen? Und wenn, unter welchen Bedingungen? Ist Vergessen nicht jene Form der Versöhnung, die am besten ohne diejenigen auskommt, mit denen man sich eigentlich versöhnen sollte? Siglinde Bolbecher Oktober 2012 5