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Univ.-Prof. Dr. Karl Müller, Vorsitzender der Theodor Kramer Gesellschaft Sehr geehrte Trauergemeinde, liebe Olivia, lieber Konstantin! Ich betrachte Siglindes Parte: Welch ein berührendes und verzauberndes Siglinde-Lachen - ja, da ist sie, das ist Siglinde! Und welch großartiges Gedicht, jenes über das „falsche Erzählen der frdhlichen Gleichgiiltigkeit“, wie dies Peter Roessler trefflich in seiner Laudatio anlasslich der Verleihung des Goldenen Ehrenzeichens fiir Verdienste um die Republik Osterreich an Siglinde jüngst genannt hat, lasst uns direkt in ihren Herzraum blicken — ja, da ist sie, so wird sie uns immer, jeden Tag gegenwartig sein — in diesem ihrem leisen, milden, geduldigen, insistierend vorgetragenen, aber oft auch lachelnd streitbaren Sprechen gegen die herzlosen, menschenfeindlichen Zumutungen des Vergessens, des glatten redseligen Zukleisterns, des Verharmlosens, des falsche Fahrten-Legens bei aller Geschwätzigkeit sowie gegen geschichtsblinde Oberflächlichkeit. Ja, hier ist Siglinde in diesem ihrem Aufbegehren gegen dieses über Jahrzehnte lang nach 1945 gepflegte kollektive und politisch verordnete redselige Schweigen. Ja, hier können wir sie in ihrer großartigen weiblich geprägten Essenz erkennen — aus diesem ihrem Kern, aus dieser innersten Kraft wirkte sie, sprach, schrieb, lehrte, organisierte und vermittelte sie. Nein, ich zähle nicht all jene Leistungen auf, die die Gattung Vita oder Nachruf ausmachen — wir kennen sie alle, sie sind ja „bloß“ äußere Hüllen eines intensiv gelebten, intellektuellen, der Kunst und verantwortlicher Wissenschaft verpflichteten Lebens, immer jenen am Rande, den Frauen insbesondere, jenen aus dem Lande Gejagten, den Ausgegrenzten, den Gedemütigten und Vernichteten, auch den kleinen Leuten zugeneigt, immer im besten Sinne hochpolitisch und auf die wunderbarste Weise differenziert kritisch, immer aus der untrennbaren Einheit von Gefühl, Bewusstsein und großem Wissen und weiblicher Klugheit sprechend und handelnd, immer der lebendigen Kreativität und allen kreativen Menschen verbunden. Was ist das Unverwechselbare an Siglinde — das fiir uns alle so Faszinierende, Anstachelnde? Ja, ihr mäanderndes, assoziierendes, alles und jedes Detail in subkutanen Zusammenhängen schende und vernetzende Erzählen, Denken, Erinnern, das die falschen Zungenschläge Aufdeckende — kein Faktum ohne Siglindes Frage nach dessen Bedingungen und Folgen, danach, wie es sich denn „innen“ anfühlen, angefühlt haben mag — dann dieses daraus neue Hypothesen entwickelnde Argumentieren, Reden und Gegenreden, ihr „Schaudoch“, „Liesdoch“ — dieses unendliche Gespräch mit einem einzigen Zentrum: der Vergegenwärtigung der aberwitzigsten und grausamsten Wege der österreichischen, der europäischen, der Welt-Geschichte, mitten drin die einzelnen, oft weiblichen Subjekte und ihre bedrängenden Lebensschicksale, oft ohnmächtig ausgeliefert dem sich als „Fortschrittssturm“ gerierenden Geschichtsprozess, der in Siglindes Blick war. Theodor Kramers „Die Wahrheit ist, man hat mir nichts getan“ las sie erstmals als Jugendliche - später berichtet Siglinde darüber: „Es sprach von Unrecht, das schleichend sich in die Zwiebelschalen eines Lebens gräbt, bis hin zur möglichen existentiellen Vernichtung. ... die zunächst unsichtbare Schlinge der Ohnmacht zieht sich zusammen, die Wahrheit unterliegt der Realität und bleibt doch ihre scharfe und bittere Gegenwelt.“ Ja, diese Sensibilität für das Ungerechte, für das nicht sofort Sichtbare, das Versteckte war ihr Kraft und Antrieb für die Vermittlung von „Wahrheit“ sowie jene an Kramer so bewunderte „anarchische Freiheitsliebe“, kratzend, bohrend und hämmernd gegen „die Kruste des prosaischen Alltags“, wie sie geschrieben har. Ohne sie gäbe es keine Exilforschung in Österreich, wie es sie jetzt gibt, ohne sie gäbe es kein österreichisches Exillexikon, nicht die Theodor Kramer Gesellschaft und deren Zeitschrift, ohne sie nicht die feinsinnigen und gegen den Strich gebürsteten Editorials, ohne sie nicht viele Erinnerungen an viele ExilantInnen - diese wären wohl für immer ausgelöscht gewesen. Siglinde hat uns eine Haltung vorgelebt, sie hat uns einen Kompass an die Hand gegeben - bedienen müssen wir ihn selber — sie hat uns eine nicht-korrumpierbare Haltung vorgezeigt. Sie war eine außergewöhnliche Frau, die in den letzten Jahren immer stärker und sensibler die Spannung zwischen Sonntagsreden und Realität wahrgenommen — auch Ohnmacht, Empörung und Wut ob weitgehenden Desinteresses und grassierender Ignoranz ihrer und unserer Arbeit gegenüber verspürt hat. Darüber konnte auch die hohe Auszeichnung, die ihr zuletzt zuteil wurde, nicht hinwegtäuschen. Ihr so früher Tod trifft uns hart — wir sind Siglinde sehr dankbar, wir fühlen uns ihr tief verbunden und verpflichtet — sie hat uns das Vermächtnis hinterlassen, nicht beizugeben. Konstantin und Olivia gilt unsere aufrichtige Anteilnahme. Irene Nawrocka Siglinde Bolbecher hat vor zehn Jahren im Rahmen der Gründung der öge die FrauenAG ins Leben gerufen, um die in der Forschung marginalisierte Situation von Frauen im Exil aus dieser Randsituation ins öffentliche Bewusstsein zu rufen. Vorbehaltlos hat Siglinde alle jene Frauen in unsere Gruppe aufgenommen, deren Interesse es ist, den geschlechtsspezifischen Spuren von Exilantinnen nachzugehen. In unserem Arbeitskreis Oktober 2012 7