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Alexander Emanuely Wer war „Michel Her“? In den von Irmgard Plotz aufgezeichneten Erinnerungen Maria Kaisers! taucht im Juli 1945 „ein charmanter Vertreter des Mouvement de la jeunesse“* in Innsbruck auf, den sie Michel Her nennt. Hatte sich sein Vorganger, ein US-amerikanischer Major, über Transparente mit der Aufschrift „Sozialdemokraten und Revolutionäre Sozialisten“ (dem offiziellen Namen der wiederbegründeten einstigen Sozialdemokratischen ArbeiterPartei) echaufliert, hat dieser Franzose nicht die geringsten Schwierigkeiten damit. Ihm „sind Begriffe wie Sozialismus und Arbeiterkammer vertraut“. Im März 1946 zieht Maria Kaiser als Verteterin der Jugend und zunächst einzige Frau auf der Liste der Sozialdemokraten in den Innsbrucker Gemeinderat ein. Im September 1946 — Maria ist gerade 30 Jahre alt — findet in Wien ein von Peter Strasser organisiertes erstes „Österreichisches Jugendtreffen“ statt, und Maria soll ihren etwas jüngeren Kollegen „Capitaine Her“ als Ortskundige zu diesem Jugendtreffen begleiten. Sie beschreibt die Fahrt in ihren Erinnerungen. Für mich erweist sich die Reise nach Wien als besonderes Erlebnis, weil ich gebeten werde, im offenen Wagen des Michel Her mitzufahren und ihm bei der Routenfindung nach Ostösterreich behilflich zu sein. [...] Ich beobachte, wie Capitaine Her bei der Abreise sein Gewehr in den Fond des Wagens legt; er reagiert sofort auf meinen irritierten Blick: „Ich will meine Waffe in Reichweite und in Augenhöhe behalten.“ Mir scheint, als ob er dem Frieden nicht traut, der Krieg läuft weiter — im Kopf- wie ein Film oder ein Albtraum, der nicht endet. Wer war nun dieser „Michel Her“, der in Wahrheit Michel Herr hieß? In der Literatur über französisch-österreichische Beziehungen wird Herr gerade einmal erwähnt. In ihrem Aufsatz über die französische Teilnahme am Forum Alpbach listet Dinah Lepuschitz alle TeilnehmerInnen seit 1945 auf. Und eben 1945, beim ersten Forum Alpbach, ist, neben Vortragenden wie Louis Aragon und Elsa Triolet, auch Hauptmann Michel Herr präsent. Titel seines Vortrages: „Die Wurzeln der französischen Widerstandsbewegung“. In der Liste steht bei seinem Namen ein Fragezeichen, was bedeutet, dass zu seiner Person „keine näheren Angaben“? gefunden werden konnten. Jedenfalls wusste Capitaine Michel, wovon er sprach, wenn es um die Resistance ging, denn seinen Rang als Hauptmann hatte er sich, dank halsbrecherischer Aktionen, im Maquis erworben. Warum er in der Folge 21 Jahre Hauptmann bleiben und bis zu seinem Ausscheiden aus der französischen Armee Anfang der 1960er Jahre nie befördert wird, ist ein Kapitel französischer Geschichte für sich. Michel Herr wurde am 21. August 1919 in Villard-sur-Chamby, bei Montreux in der Schweiz geboren, und war das jüngste Kind eines der wohl einflussreichsten Intellektuellen der Jahrhundertwende in Frankreich: Lucien Herr. Dieser hatte als Bibliothekar der Ecole Normale Supérieure (ENS) mehrfach der Politik seines Landes seinen Stempel aufgedrückt. Zunächst war er einer der Ersten gewesen, die sich fiir einen anderen Hauptmann Frankreichs, nämlich für Alfred Dreyfus, eingesetzt und für ihn mobilisiert 26 _ ZWISCHENWELT hatten. Mobilisiert hatte er zuerst einmal unter den Schülern und Absolventen der Eliteschule ENS (die erste Studentin wurde an der ENS erst 1910 zugelassen), aber auch innerhalb der jungen sozialistischen Partei, der er angehörte und deren Vordenker er war. 1904 gründete er mit seinem Freund Jean Jaurés die Zeitung „LHumanite“, deren Namensgeber er gewesen sein soll. Bald wird ihn Leon Blum, Schüler der ENS und Autor der „LHumanite“, als seinen Lehrmeister in Sachen Sozialismus und als engsten Freund bezeichnen. Michel Herrs Mutter Jeanne Couénod war Schweizerin, Lucien Herr Elsässer, weshalb Michel von Kindheit an auch Deutsch konnte. Er studiert, wie schon sein Vater und seine Schwester, an der ENS, und zwar ab 1938 Altgriechisch und Archäologie. Parallel dazu unterzicht er sich einer Ausbildung zum Reserveofhzier; 1939, bei Kriegsausbruch, ist er Kadett. Nach der Niederlage Frankreichs versucht er, mit einem Freund nach England zu Nliehen, was jedoch nicht gelingen soll. Danach wird er, so wie viele junge Soldaten, aufgerufen, sich dem von Vichy organisierten Jugendarbeitsdienst „Chantiers de la jeunesse“ anzuschließen. Viele tausend junge Männer um die 20 kommen dort zusammen. Sie werden aufs Land geschickt, um sich dort körperlich für das Vaterland zu ertüchtigen, bzw. abzulenken und um auf keine dummen Ideen zu kommen, wie z.B. Beispiel Widerstand gegen die Deutschen zu leisten. Auch sollen ihnen die Ideen der „Nationalen Revolution“ eingetrichtert werden. Doch bevor Michel Herr sich bei der Organisation einschreibt, besucht er einen alten Freund seines Vaters, den chemaligen Premierminister der Volksfrontregierung L&on Blum, im Gefängnis von Riom und fragt ihn um Rat. Blum meint darauf nur: „Machen Sie nur mit, wir müssen überall sein.“ Als Kadett und Normalien (Schüler der ENS) klettert Michel Herr in der Hierarchie der Jugendorganisation schnell hoch, wodurch er auch die notwendigen Passierscheine erhält, sich halbwegs frei in Frankreich bewegen zu können. Wiederholt besucht er den inhaftierten Leon Blum, der in Riom auf seinen Prozess wartet. Sie schreiben einander Briefe und Michel Herr schmuggelt wichtige Notizen des ehemaligen Premiers aus dem Gefängnis. Michel Herr war nicht der einzige antifaschistische Maulwurf in den verschiedenen von der Regierung in Vichy geförderten Jugendorganisationen, ganz im Gegenteil, die noch wachsende Resistance konnte in die Chantiers viele Mitstreiter einschleusen und aus ihnen rekrutieren. Mit Ausnahme von Algerien geht der Plan, aus den Jugendorganisationen effektive Reservearmeen im Hinterland für den Moment der Befreiung zu machen, nicht auf. Trotzdem, unter der Federführung einiger ihrer Leiter, wie des Colonel Van Hecke, der die Landung der Alliierten in Algerien vom Land aus unterstützte, wurden 10.000e junge Männer militärisch für die Befreiung trainiert. Michel Herr war vor allem und immer wieder Kurier für die Resistance. Er hielt jedoch den alltäglichen Drill in den Jugendlagern nicht mehr aus, desertierte und tauchte unter. Nach seinem Untertauchen wurde er vom Leiter einer anderen Jugendorganisation, der ebenfalls der Widerstandsbewegung angehörte, zum Abbé Alexander Glasberg, der vor allem Mitglieder der Internationalen Brigaden und jiidische Kinder gerettet und versteckt hat, geschickt. Alexander Glasberg war als junger Mann vom Judentum zum Katholizismus konvertiert, mit seiner Familie 1921 aus der Ukraine nach Wien geflohen, wo er studiert und knapp zehn Jahre gelebt hat. Anfang der 1930er Jahre war er nach Paris übersiedelt, um Theologie zu studieren, und war schließlich