OCR
Wirklichkeit oft nicht mehr übereinstimmen, ergeben sich komplizierte Widersprüche. [...] Die Sprache der Zeitung bemächtigt sich des nicht mehr mit der Wirklichkeit übereinstimmenden Wortes als Phrase. Und diese Phrase verdunkelt als Schatten einer alten die neue Wirklichkeit. [...] Durch die Phrase wird gleichsam die Wirklichkeit abgeschafft. [...] Indem er gegen die Verluderung der Sprache kämpfte, hoffte Karl Kraus, eine verluderte Wirklichkeit zu reformieren. Er war ein Herakles, festgehalten von einem einzigen, niemals vollendeten Werk: Reinigung des Augiasstalls. Doch ohne den Sturz des Augias war dieser Stall nicht mehr zu reinigen.“ Sechs. „Das wahrhaft Problematische an Karl Kraus ist die, ihrem Wesen nach kleinbürgerliche, Verneinung der Politik, der gesellschaftlichen, der geschichtlichen Entwicklungsprozesse.“ Also doch, hier ist es, das Verdikt „kleinbürgerlich“, das in der Regel als marxistisch-leninistische Diagnose zur Dequalifizierung der Distanz zur „proletarischen“, parteilichen „Wahrheit“ in Verwendung stand (steht?). Allerdings ist im Hinblick auf Fischer Karl-Markus Gauß zu folgen, der einschränkt: „Gleich vielen anderen Marxisten seiner Zeit hat auch Ernst Fischer in den ersten Jahrzehnten nach 1945 in einen soziologisch und ökonomisch unscharf gefassten ‚Kleinbürger‘ ein Übermaß an Verantwortlichkeit für geschichtliche Entwicklungen hineingelegt und das dem historischen Popanz zugeordnete Attribut ‚kleinbürgerlich‘ als Sammeleigenschaft alles Gefährlichen, des Faschismus wie der Reaktion, als Inbegriff von Untertänigkeit und Unentschiedenheit gebraucht — und verbraucht.“ Allerdings habe er mit fortschreitendem theoretischem Verständnis und mit den politischen Erfahrungen der sechziger Jahre erkannt, „dass die universelle Kleinbürgerschelte der ausschließenden Praxis und der verengten Theorie des Parteikommunismus diente und zwar ein beliebtes Mittel war, historisch-komplexen Erscheinungen gleichsam mit dem Knüppel des großen Begriffs beizukommen, aber ein untaugliches, komplizierte gesellschaftliche Prozesse tatsächlich zu verstehen“. Natürlich bedauert der Kommunist Fischer, den Kraus einmal ironisch „mein Perlenfischer“ genannt hatte: „In seiner paradoxen Situation verneinte er (Kraus) den Kommunismus.“ Umso befriedigter macht Fischer zugleich darauf aufmerksam, Kraus „fügte aber sofort hinzu: ‚Gott erhalte ihn uns, damit dieses Gesindl, das schon nicht mehr ein und aus weiß vor Frechheit, nicht noch frecher werde, damit die Gesellschaft der ausschließlich Genussberechtigten ... wenigstens doch auch mit einem Alpdruck zu Bett gehel““ — Ist man nicht heute angesichts eines ähnlichen Gesindls manchmal geneigt zu sagen (zugegeben, vielleicht mehr im alten „Westen“): Schade, dass die Allmacht dieses Gottes dazu nicht ausgereicht hat? In diesem Zusammenhang ist Fischer meines Erachtens besonderer Respekt zu zollen, auf welche Weise er Kraus‘ politische und literarische Haltung zum 1. Weltkrieg hervorhebt, dessen berühmte Rede vom 9. November 1914 zitiert („In dieser großen Zeit, die ich gekannt habe, wie sie noch so klein war; die wieder klein werden wird, wenn ihr dazu noch Zeit bleibt ...“) und unzweideutig festhält: „Es war betont die Haltung des Einzelgängers — der nun freilich, auch dies muss gesagt sein, in der entscheidenden Situation des Kriegsausbruchs als einzelner die Sache der Menschheit würdiger vertrat als etwa der Parteivorstand der österreichischen Sozialdemokratie. Auch in der organisierten Arbeiterbewegung außerhalb Russlands waren es nur einzelne, wie Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, die dem ungeheuren Verbrechen entgegentraten.“ — Man mag das heute gern auch als Polemik lesen, die sich gegen die Verabsolutierung und Dogmatisierung der Arbeiterparteien als angebliche ständige Avantgarde richtete. Sicher witterten manche Partei-Apostel hinter solchen Formulierungen damals auch „Gefährliches“. Aber eine derartige Lesart wäre zu platt. Fischers Denken war jedenfalls auch damals weit entfernt von einem primitiven, mechanischen Verständnis des Zustandekommens geistiger Entwicklungen. Bereits zehn Jahre zuvor war er es, der das in der DDR unter Beschuss stehende Opernlibretto seines Freundes Hanns Eisler „Johann Faustus“ leidenschaftlich gegen im Großen und Ganzen einfältige bis bösartige Wald- und Wiesenmarxisten verteidigte und sich seit damals entsprechender Ressentiments von Teilen des SEDApparats erfreuen durfte. Kunst versus Politik ? Ein Mann, dessen erstes Theaterstück gleich am Burgtheater aufgeführt wird®, von dem im Lauf'seines Lebens mehrere Lyrik-Bücher verlegt werden? und der in den letzten Lebensjahren seit der KafkaKonferenz 1963'° mit bedeutenden literaturkritisch-essayistischen Werken auch in der bürgerlichen Welt Aufsehen erregt'', wird heute wohl mit einigem Recht auf seine Rolle im kulturellen, intellektuellen Leben hin beleuchtet und analysiert. Aber Ernst Fischer war bekanntlich auch eine wichtige politische Figur dieses Landes, beginnend bereits als beachtlicher sozialdemokratischer Journalist der Steiermark in den Zwanzigerjahren, später in Wien als Redakteur der Arbeiter-Zeitung, gefolgt von bedeutenden Beiträgen zur Oktober 2012 33