OCR
Bernhard Kuschey Kärnten?! Grenzlanddeutschtum und die Traumata des 20. Jahrhunderts Eine Sammelrezension und ein Analyseversuch Diesen Artikel habe ich als letzten mit Siglinde Bolbecher vorbesprochen, daher ist er ihr gewidmet. Hoffentlich ist er in ihrem Sinne. Im Sommer 2012 sind unter erheblichem Getöse Kärntner Eiterbeulen aufgebrochen. Der Eiter im corpus politicus besteht aus Geldwaschereien, Steuerhinterzichungen, Bestechungen, Vorteilsgewahrungen und —annahmen, illegalen Parteifinanzierungen, Missbrauch öffentlicher Mittel und missbräuchlicher Verwendung von Bankkapital. Diese Wirtschaftsverbrechen traten mit aller Deutlichkleit zutage, weil belasteten Personen nur mehr mit Geständnissen eine Strafmilderung möglich schien. Mit diesen Geständnissen begann die österreichische Justiz energischer zu agieren, vorher hatten sie Anzeigen und zweckdienliche Hinweise jahrelang kaum zum Handeln bewegt. Die Omerta hat lange genug funktioniert. Aber ob man für den Ausgang und Erkenntniswert der anstehenden Prozesse optimistisch sein darf, sollte nicht als gesichert angenommen werden. Das Anstechen der Eiterbeule der Korruption in Kärnten hat die politische Hegemonie der Deutschnationalen im südlichen Bundesland angegriffen. Sie wurden selbst in den Medien als wirtschaftskriminelle und autoritäre Clique gezeichnet, die öffentliches Gut vergeudet oder es sich widerrechtlich angeeignet hat, um ihre Macht zu zementieren. Dem deutschnationalen Milieu war es in den letzten 25 Jahren in Kärnten gelungen, eine politische Hegemonialposition zu errichten. Eine entschieden parteiliche Politik förderte schamlos die eigene Klientel, die politischen Gegner wurden eingeschüchtert und die Ressentiments einer kleinbürgerlichen und bäuerlichen Mehrheit genährt. Es ist kein gutes Zeichen für die Zivilgesellschaft, dass die verschiedenen autoritären Parteien der deutschnationalen Milieus - FPÖ, BZÖ und FPK- außergewöhnliche Mehrheiten in Kärnten erlangen und diese durch politische und juristische Tricks stabilisieren konnten. Nun liegen diese Tricksereien ein wenig offener vor den Wählern da und die anderen Parteien könnten initiativ werden. Ob sie dazu imstande sein werden, wird sich zeigen. Nur die Grünen haben einen wichtigen Beitrag zur Stärkung der Kärntner Zivilgesellschaft geleistet, indem sie sich der Aufdeckung der deutschnationalen Skandale verschrieben haben. Es ist ja paradox, dass der Aufstieg der FPÖ Haiders parallel zum Zusammenbruch des Sowjetblocks und zur Gründung und Erweiterung der EU, also parallel zur Überwindung der undurchdringlichen Grenzanlagen zwischen Ost- und Westeuropa und zum Zusammenrücken der europäischen Staaten stattgefunden hat. In einer europäischen Aufbruchstimmung konnte die FPÖ nicht nur in Kärnten sondern in ganz Österreich eine Renationalisierung der Politik forcieren. Die „moderne“ deutschnationale Politik richtete sich über das Hauptthema Fremdenfeindlichkeit gegen die größere Freiheit und Beweglichkeit der europäischen Bürger und eine supernationale Organisation der wirtschaftlichen Notwendigkeiten. Das Eigene wurde zum Fetisch und eine Politik der Enge reagierte auf verständliche Modernisierungsängste. Eine Selbstprovinzialisierung und eine Wirtschaftspolitik A la „schwäbische Hausfrau“ sollte Sicherheit vermitteln und war „natürlich“ eine völlig unangemessene Antwort auf den rasanten Wandel, der, wie wir in der Zwischenzeit erleben mussten, auch die europäische Politik überfordert hat. In der „Provinz“ Kärnten kann man nun sehen, wohin diese Politik führt: in die Abkoppelung, in den Zusammenbruch ökonomischer, sozialer Strukturen und des Tourismus, ja sogar in ein negatives Bevölkerungswachstum mit Überalterung und dem Weggang aktiver Menschen. Kärnten rutschte in beinahe allen wichtigen wirtschaftlichen und sozialen Daten auf den letzten Platz in Österreich ab. Kärnten ist umgeben von vergleichsweise interessanten und aufstrebenden Regionen: Slowenien, Friaul, der Steiermark und Salzburg. Heute pendeln mehr Kärntner zu Arbeitsstellen in Slowenien als umgekehrt. Früher waren in Kärnten viele niederländische Gäste; nach den diversen „Sagern“ Haiders, die eine Nähe zur nationalsozialistischen Ideologie erkennen ließen, blieben sie weg. In Kärnten wundert man sich noch immer, warum die Holländer nicht mehr kommen. Der Hypo Alpe Adria-Skandal wird lediglich als Ausfluss der Inkompetenz, Engstirnigkeit und Habgier eines Klüngels im System Haider interpretiert, aber er muss auch als Ergebnis nationalistischer Politik verstanden werden. Die Hypo begann in den Kriegen ExJugoslawiens insbesondere auf Seiten Kroatiens mitzumischen. Die Finanzierung kroatischer Waffenkäufe soll zu einem guten Teil über Klagenfurt gelaufen sein. Geschäfte mit dem Krieg müssen korrupte Verhältnisse stärken. Und die Korruption blühte richtig auf im Wettlauf um die Aneignung des chemaligen staatlichen Vermögens im ganzen chemaligen Jugoslawien. Die exorbitante Vergrößerung der Hypo Group Alpe Adria unter deren Chef Kulterer ist auf die Gier nach den Filetstücken in Ex-Jugoslawien zurückzuführen. Dass dieser „Raubzug“ die Korruption in der Hypo derart verstärkt hat, dass sie beinahe automatisch in die Krise schlittern musste, erscheint nachvollziehbar. ' Deutschnationale haben nicht nur geringe wirtschaftspolitische Kompetenz, sie ordnen ihre Wirtschaftspolitik selbstverständlich auch ihren nationalistischen Optionen unter: Die Renationalisierung Jugoslawiens wurde ohne jede Skrupel unterstützt und der Krieggeschürt. Da der Krieg in Jugoslawien auch ein Systemwechsel war und das deutschnationale Selbstbewusstsein wenig Probleme damit hat, die Slawen übers Ohr zu hauen, wurde über die ideologischen Eckpunkte „Privatisierung“ und „Entwicklungshilfe für den Balkan“ ein noch wenig verstandener Raubzug organisiert. Kulturkonfliktraum und Grenzlanddeutschtum In Kärnten begegneten und sollten sich die romanischen, slawischen und deutschen Kulturen begegnen. Solange die Mobilität und weiträumige Kommunikation gering war, war das Nebeneinander verschiedener Kulturräume kaum ein größeres Problem. Wenn die Untertanen ihre ihnen zugewiesenen Aufgaben erfüllten, Oktober 2012 41