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Michael Egger Der vorliegende Beitrag wird am Beispiel von Josef Dobretsberger, Professor für Ökonomie an der Universität Graz, eine individuelle Flucht vor dem NS-Regime darlegen. Die Person Dobretsberger dient dabei als Beispiel für zahlreiche andere deutschsprachige WissenschaftlerInnen, die ab 1933 aus Deutschland und nach dem „Anschluss“ 1938 aus Österreich emigrierten. Ziel der AkademikerInnen war neben den größten Exilländern USA und Großbritannien unter anderem die Türkei. Das Land Atatürks bot mehreren Hundert Personen einen sicheren Zufluchtsort, an dem sie ihrer wissenschaftlichen Arbeit nachgehen konnten. Josef Dobretsberger war einer davon.' Von 1938 bis 1941 arbeitete er an der Universitat Istanbul. Wie aber gestaltete sich das Leben in der vermeintlichen Fremde fiir Dobretsberger? Welche beruflichen und privaten Griinde gab es fiir den Weg von Graz, aus dem österreichischen Staatsdienst nach Istanbul an die Universität Istanbul? Die Türkei als Exilland für deutschsprachige Wissenschaftlerlnnen Die Angaben beziiglich der Anzahl der WissenschaftlerInnen, die von 1933 bis 1945 in die Türkei emigrierten, schwanken zwischen 200 deutschsprachigen und 300 ausländischen WissenschaftlerInnen.” Der Anteil der österreichischen AkademikerInnen macht davon 38 Personen aus, die hauptsächlich erst nach dem „Anschluss“ in die Türkei kamen.’ Am 27. Oktober 1933 trafen die ersten deutschsprachigen Professoren‘ und wissenschaftlichen MitarbeiterInnen aus Deutschland in Istanbul ein.” Daneben durften noch ein Jahr lang Hausangestellte oder Kindermädchen mit in die Türkei gebracht werden, che das 1934 von der türkischen Regierung verabschiedete Berufssperrengesetz in Kraft trat (welches Tätigkeiten wie Maler, Tischler, Kindermädchen und viele weitere für Nichttürken sperrte), wodurch AusländerInnen für diese „einfachen“ Berufe keine Arbeitsbewilligung mehr bekamen.‘ 1938 änderte sich auch die Situation für emigrierte WissenschaftlerInnen. Während die deutschen Professoren 1933 durchaus noch wissenschaftliche deutsche Angestellte im Rahmen des jeweiligen Lehrstuhls nachholen bzw. mitbringen konnten, war das für die österreichischen Professoren ab 1938 nur mehr bedingt möglich. So versuchte Josef Dobretsberger seinen Schützling und Schüler Franz Nemschak 1939 in die Türkei nachzuholen, was aber nicht mehr gelang, da nur mehr türkische wissenschaftliche MitarbeiterInnen den Professoren zur Seite gestellt wurden. Einer der Hauptpunkte der Arbeitsverträge, die Heranbildung von eigenem türkischen Nachwuchs sollte so gesichert werden. Sein Ansuchen wurde daher abgelehnt.” Warum er selbst in die Türkei ging, wird das nächste Kapitel klären. Der „Fall“ Dobretsberger Josef Dobretsberger kam 1903 in Linz auf die Welt. Er studierte, nachdem er das Staatsgymnasium absolviert hatte, Staatswissenschaften an der Universitat Wien. Von 1925 bis 1929 war er bei Professor Hans Kelsen® als Assistent beschäftigt. 1926 erfolgte die Promotion, wobei er sich neben der Nationalökonomie mit der Soziologie und der Philosophie beschäftigte.° 1929 wurde er in Wien habilitiert. Am 1. April 1931 kam die Ernennung zum ao. Professor und er erhielt den zweiten Lehrstuhl für politische Ökonomie in Graz. Neben seiner wissenschaftlichen Karriere war er immer politisch aktiv gewesen. Als Mitglied der Vaterländischen Front arbeitete er von 1934 bis 1935 bei der Österreichischen Nationalbank und von Oktober 1935 bis Mai 1936 bekleidete er das Amt des Bundesministers für soziale Verwaltung. Nachdem Dobretsberger von 1936 bis 1937 Dekan der Rechtwissenschaftlichen Fakultät Graz gewesen war, hatte er von 1937 bis zum „Anschluss“ im März 1938 das Amt des Rektors der Karl-Franzens-Universität Graz inne.'" Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung wurde er als „politisch unerwünschter“ Mensch am 20. März 1938 verhaftet. Sich der nationalsozialistischen Gefahr in Österreich bewusst, überschritt der österreichische Wissenschaftler als Exilant am 10. Juni 1938 die jugoslawische Grenze. Er war nun mit seiner Frau Clara, seiner Tochter Sissy und seiner Schwiegermutter auf der Flucht.!! Noch während seiner Haftzeit, aus der er am 2. April 1938 entlassen wurde (ein Bekannter intervenierte fiir ihn), erhielt Dobretsberger vom deutschen Nationalökonomen Fritz Neumark aus der Türkei einen Rufan die Universität Istanbul. Er antwortete Neumark am 26. Juni 1938 aus Ascona, Casa Cedro (Italien): Lieber Herr Kollege! Endlich in Freiheit kann ich Ihnen erst schreiben was ich Ihnen zu danken habe. |...] Ihre Berufung wurde mir in die Gefängniszelle zugestellt — Ich werde Ihnen dies nie vergessen! [...] Ich habe viel durchgemacht u. möchte Ruhe haben, vor allem aber durfte ich ganze 20 RM und nur eine Fahrkarte nach Istanbul mitnehmen, sodaß ein Reise nach Istanbul jetzt und im September wieder sehr schwierig wäre. |...] Ich freue mich wieder Prof. zu sein.” Die Flucht führte ihn und seine Familienangehörigen zunächst in die Schweiz, bevor Istanbul die Endstadion einer langen Reise wurde.'* Schon während seiner Ausreise aus Österreich dürfte Dobretsberger in den „zeitlichen Ruhestand“ versetzt worden sein. Die Zeit von seiner Haftentlassung bis zur Ausreise, die ihn letztlich in die Türkei führen sollte, gestaltete sich extrem schwer. Zwischen Wollen und Können Was Ibler mit dem Satz „Einer Berufung an die Universität Istanbul konnte er erst nach einigen Schwierigkeiten folge leisten [...]*"° beschreibt und Karner mit dem Hinweis auf die Berufungsverhandlungen mit der Universität Istanbul und einer Loyalitätserklärung von Dobretsberger gegenüber dem NS-Regime und dem „Dritten Reich“ darlegt'°, war in Wirklichkeit ein nervenaufreibendes, zeitraubendes bürokratisches Machtspiel seitens der nationalsozialistischen Behörden. Der erste Kontakt zur Universität Istanbul wurde, wie bereits erwähnt, von Fritz Neumark initiiert. Dieser suchte eine Neubesetzung für die Lehrkanzel des Wirtschaftswissenschaftlers und Nationalökonomen Wilhelm Röpke, eines deutschen Emigranten, der 1938 nach einigen Jahren im türkischen Exil in die USA ging. Telefonisch erkundigte sich Neumark bei Dobretsberger, vermutlich vor dessen Haftzeit in Graz, ob er jemanden wüsste - in der Rolle eines Jobvermittlers —, der diesen Posten nachbesetzen könnte. Die Oktober 2012 49