OCR
Lehrbücher.? Beruflich wie privat war vor allem der deutsche Wissenschaftler Neumark, neben anderen EmigrantInnen, ein guter Freund in der Fremde. Die gegenseitige langjährige Verbundenheit von Dobretsberger und Neumark zeigte unter anderem der Besuch des Grazers bei der Antrittsvorlesung von Neumark in Nürnberg 1962.” Die politischen Aktivitäten Dobretsbergers in seiner Zeit in der Türkei waren — trotz eines Verbotes einer politischen Betätigung von Seiten der türkischen Regierung” — nicht zu unterbinden. Er stellte von der Türkei aus in Briefwechseln zum Kriegsverlauf Überlegungen für eine Nachkriegszukunft an.’ Zudem stand er der kommunistischen Idee nahe, wurde aber, wie es Christine Hoss formulierte, „nicht zum Kommunismus bekehrt“.”” Dobretsberger war in Istanbul Gast bei politischen Diskussionsveranstaltungen. Die Lehren Marx‘ bildeten ein Hauptinteresse des Grazers. „Dobretsberger kam als fortschrittlicher Katholik (nach Istanbul) und vor allem als Nationalökonom zum Marxismus“, so die Schilderung der österreichischen Architektin Margarete Schütte-Lihotzky, die in der illegalen Kommunistischen Partei Österreichs in der Türkei tätig war. Ein weiterer Freund war Ernst Karl Winter in den USA, mit dem der Wirtschaftswissenschaftler ständig in Kontakt war. Bemühungen, Dobretsberger in England oder in die USA unterzubringen, scheiterten neben dem Versuch, in Brasilien eine neue Heimat zu finden.” Politisch versuchte Dobretsberger nach dem Zweiten Weltkrieg mit seiner eigenen Partei Erfolge zu erzielen, womit er allerdings nur geringe Erfolge feiern konnte.“ Das „one way ticket“ nach Kairo 1941 verließ der ehemalige Grazer Professor die Türkei und nahm einen Ruf an die Giza-Universität in Kairo an.*' Warum Dobretsberger nun seinen Vertrag vorzeitig kündigte — er dürfte einen Vierjahresvertrag in Istanbul bekommen haben - ist umstritten. Neumark nannte als Grund die Ankunft des neuen deutschen Botschafters 1941, Franz von Papen. Dobretsberger begegnete Papen bereits in Wien vor dem „Anschluss“ bei einem seiner eigenen Vorträge.“ Ausgehend von dieser Begegnung soll sich Dobretsberger erheblich vor dem langen Arm des Nationalsozialismus in der Türkei gefürchtet und deswegen das Land verlassen haben. Dieter A. Binder sieht in der „zunehmenden braunen Infiltration der Istanbuler Gesellschaft“* ebenfalls einen zusätzlichen Grund für die Ausreise des Wirtschaftswissenschaftlers. Dr. Scurla**‘, der 1939 eine Visite als ofhizieller Vertreter Deutschlands an den türkischen Hochschulen abhielt und dabei im Speziellen die deutschsprachigen EmigrantInnen untersuchte, hielt in seinem Reisebericht, welchen er für das Reichsunterrichtsministerium verfasste, über Dobretsberger fest: Der Lehrstuhl für politische Ökonomie ist mit dem früher an der Universität Graz tätigen, 1903 geborenen Professor Dobretsberger besetzt. [...] Die Genehmigung zur Verlegung des Wohnsitzes nach Istanbul ist nach Zurückstellung ernster Bedenken im Juli 1938 erteilt worden, nachdem sich mafgebliche Persönlichkeiten und Fachkollegen Dobretsbergers für ihn eingesetzt hatten und er selbst wiederholt mündlich und schriftlich betont hatte, dass er seinen Aufenthalt im Auslande als eine Möglichkeit betrachte, seine Loyalität gegenüber dem Dritten Reiche unter Beweis zu stellen. [...] Das Verhalten seiner Frau muß als ausgesprochen deutsch-feindlich betrachtet werden. [...] Die Entziehung der Genehmigung zur Verlegung des Wohnsitzes erscheint dringend erforderlich.” Inwieweit nun Dobretsberger von den Beobachtungen wusste, kann nicht mehr festgestellt werden. Den Bericht Scurlas kannte er damals nicht. Die Gefahr des NS-Apparates innerhalb der Türkei (unter anderem Bespitzelungen von Seiten der „Reichsprofessoren“, die an türkischen Hochschuleinrichtungen lehrten) war ihm allerdings angesichts der genauen Schilderung seiner Person durch Scurlas mit Sicherheit bewusst, welcher viele seiner Informationen von dritten Personen („Reichsprofessoren“, Angestellte des deutschen Konsulats oder der deutschen Botschaft) erhielt. Trotz der weiteren „Flucht“ nach Kairo an die dortige Universität war es nicht Dobretsbergers Absicht, lange außerhalb der Türkei zu leben und zu arbeiten. Am 15. August 1941 schrieb er aus Jerusalem’ an seinen Freund Neumark nach Istanbul von seinem Heimweh nach den Forellen und Bergen von Uludag. Er habe die Absicht im September in die Türkei zurückzukehren, es sei denn, dass der Krieg auch in der Türkei ausbräche, was er aber nun nicht mehr glaube. Das Junigehalt 1941 hatte Dobretsberger noch aus der Türkei bezahlt bekommen, die restlichen Gehälter wurden aber eingefroren, als Garantie seiner Riickkehr.* Am 18. August 1941 schrieb der Wissenschaftler wieder an Neumark, dass Geriichten zufolge Dozent Landshut seinen alten Lehrstuhl in Istanbul haben wolle. Er vermutete, dass man ihn loswerden wolle und seine Nachfolge schon geregelt werde. Dobretsberger wollte ursprünglich am 20. September 1941 wieder in die Türkei zurückfahren, blieb aber noch länger in Kairo.” Ein Jahr nach Beendigung des Krieges kam er an seine „alte“ Grazer Universität zurück. Als Universitätsprofessor bekleidete er 1946 bis 1947 noch einmal das Amt des Rektors und war als Universitätsprofessor tätig. Er starb 23. Mai 1970 in Wien. Am 21. Juni 1938 hatte er Neumark geschrieben, dass er ohne die Berufung an die Universität Istanbul Salinenarbeiter in Ebensee geworden wäre.” Die Emigration in die Türkei brachte für Dobretsberger nicht nur einen gut bezahlten Arbeitsplatz, sondern sicherte sein Leben, welches in Hitlerdeutschland bedroht gewesen wäre. Schon aus dieser Überlegung heraus zeigt sich, dass eine Anstellung in der Türkei für ihn und zahlreiche andere vom Nationalsozialismus vertriebenen WissenschaftlerInnen eine (Über) Lebenschance darstellte. Oktober 2012 51