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gesellschaftlichem Aufbruch nach 1918 bis zu den aussichtslosen ständestaatlichen Versuchen, das Rad der Zeit „hinter die Französische Revolution“ zurückzudrehen, von dogmatischer Borniertheit bis zu unbarmherziger christlicher Härte, von arrangierten Ehen bis zur freien Liebe, von verspielten Stuckfassaden bis zu schmucklosen Betonbauten... Ambitionierte begeben sich auf die Spurensuche nach zeitgeschichtlichen Vorbildern für die Romanfiguren wie dem „Dichter“, der sich - als frühes Beispiel eines österreichischen Opportunisten — vom kokainschwangeren, revolutionären Expressionismus über den vaterländischen Klerikalismus zum Nationalsozialismus bewegt. Für ExilforscherInnen finden sich Hinweise wie der Brief Neumanns an Viktor Matejka vom November 1945, in dem er von einer „Vereinigung österreichischer Künstler“ in Hollywood berichtet, „die sich zur Aufgabe gesetzt hat, an dem Aufbau des Wiener Kultur- und Theaterlebens mitzuhelfen, geistig und materiell.“ Darunter befanden sich so bekannte Namen wie Hedy Lamarr, William Wilder oder Fritz Kortner. Selbst mit Theodor Kramer hatte Neumann 1937 und 1938 im Rahmen der PLAN-Aktivitäten zur Herausgabe einer avantgardistischen Kunstzeitschrift rund um den Schriftsteller Otto Basil und den Grazer Architekten Herbert Eichholzer Kontakt. Die LeserInnen werden sich bei einigen Stellen am Pathos der Zeit reiben, aber durch Wortbilder wie „Böse Gerüchte lagen in der Luft, wie unheimliche, schwarze, fliegende Hunde“ entschädigt werden. Wirtschaftspolitisch Bewegte werden unter anderem feststellen, dass sich die heutigen Argumente für das Wie lebt und überlebt man, wenn nacheinander ein Familienmitglied nach dem anderen vor der Zeit an der Welt und an gebrochenem Herzen stirbt? Die Mutter zuerst, dann der mittlere der drei Brüder, danach der Vater, und schließlich der jüngste und der älteste Bruder. Zurück bleibt die Ich-Erzählerin als jüngste Schwester, die zehn Jahre nach dem letzten Tod aufschreibt, was sie darüber mitzuteilen vermag. Das ist schwierig, weil jeder dieser Tode auch verbunden ist nicht nur mit einem außergewöhnlichen Lebensweg jedes einzelnen Familienmitglieds, sondern auch mit der nahezu landesweiten Bekanntheit und Berühmtheit der ganzen Familie. DDR, sechziger Jahre. In diese hinein wird die Ich-Erzählerin, die man ohne Bedenken als Autorin identifizieren kann, knapp vor dem Bau der Mauer in Berlin, geboren. Da war der Vater bereits als führender Funktionär etabliert. Zwar nicht ganz an der Spitze, aber in der „zweiten Reihe“, wie er der Tochter gegenüber nicht lange vor seinem Iod überraschend einräumt (ab 1965 stellvertretender Kulturminister). Wäre ich nicht Jude gewesen, wäre sowieso einiges anders gelaufen. Aber als er diesen Satz spricht, steht er bereits vor den Trümmern seines Lebens. Als Sohn einer oberbayerischen Jüdin, die zum Katholizismus konvertiert war und ihren Sohn ins Benediktinergymnasium gesteckt hatte, bis ihr bewusst wurde, dass das nichts nützte, und ihn 1939 als Sechzehnjährigen mit einem Kindertransport nach England schickte. Der dort den Katholizismus bald gegen den Kommunismus tauscht und im Londoner Exil seine Frau Gerda kennenlernt, geflüchtete jüdische Wienerin aus dem ersten Bezirk. Türmen. Das war das Wort, das meine Mutter benutzte, wenn sie von England sprach. „Wir sind getürmt‘, sagte sie und erzählte mir irgendwann auch von der Zahnbürste, mit der sie und ihre Schwester in Wien unter Aufsicht der Nazis die Straße putzen mussten. Gerda Brasch, die in London erste Erfahrungen am Theater macht, ware nach dem Krieg gern Sangerin und Schauspielerin geworden. Aber da kam zu Beginn des Jahres 1945, noch in England, das erste Kind. Und dann zog es den geliebten Mann zuriick in das besiegte und zerbombte Deutschland. Die Tochter gibt den Konflikt so wieder: „Was soll ich da, ich bin keine Deutsche.“ „Wir sind Kommunisten.“ „Ich komme aus Wien. Ich bin Jüdin. Ich geh nicht nach Deutschland.“ „Ich werde gehen. Und wenn du nicht mitkommst, bleibst du hier allein mit deinem Sohn.“ Sie weinte. Mein Vater ging nach Deutschland und ließ sie allein. [...] Ein Jahr ließ sie ihn warten. Ein Jahr litt sie. Dann folgte sie ihm mit ihrem Sohn. Von diesem Konflikt abgeleitet, wird in manchen Rezensionen und in Biographien der Söhne ein familiärer „Urkonflikt“ der realen Familie Brasch behauptet, der als „eine Psychose namens DDR“ (so der Titel einer Rezension) bezeichnet werden kann. Das ist meines Erachtens mit Vorsicht zu genießen. Und in aller Regel ein nur dem Untergang der DDR geschuldeter politischer Reflex, der nicht bedenkt, was an einem Weg der Exilanten etwa in das nachnazistische Westdeutschland oder das nachnazistische Österreich plausibler und für Antifaschisten vertretbarer gewesen wäre. Wahr ist, dass offenbar nicht nur (unbeschriebene) politische Differenzen der Eltern über den Weg des ostdeutschen Staates bestanden. Zwistigkeiten wurden auch angefeuert durch die etwas affektiert-großbürgerliche Vorenthalten von Lohnerhöhungen bzw. für das Durchsetzen von Lohnsenkungen (wie jetzt in Griechenland) nicht von jenen der 1920er- und 30er- Jahre unterscheiden und dass kleine und mittlere Unternehmen gegen die wirtschaftliche und politische Macht der großen Konzerne stets den Kürzeren ziehen. Jetzt bleibt noch zu hoffen, dass ein weiterer Zufall auch das zweite verschollene Romanmanuskript Neumanns, „House in Paris“, zum Vorschein bringt, damit wir die — fir Vergangenheit und Gegenwart — aufschlussreiche Zeitreise fortsetzen können. Helene Belndorfer Kurt Neumann: Gefangen zwischen zwei Kriegen. Graz: CLIO 2012. 496 S. Euro 27,Großmutter mütterlicherseits der Ich-Erzählerin („Oma London“). Diese (,... sie sprach feinstes Wienerisch, das sie sorgsam mit englischen Vokabeln versetzte — eine Dame in Vollendung ....) war nach dem Krieg mit ihrem zweiten Mann Willy in London geblieben. Der Mutter fehlte nicht zuletzt Wien. Ob in England oder in der DDR. Die Tochter erfährt dies auf ihre Weise: „Meine Mutter konnte es nicht leiden, wenn wir berlinerten.“ Sie habe darauf „mit einem fast verschwörerischen Unterton hingewiesen“. In Sachsen (aufgrund einer Versetzung des Vaters) ... hasste sie den breiten, unförmigen Dialekt, der hier gesprochen wurde. „Du stellst dich jetzt zehn Minuten vor den Spiegel und sprichst Hochdeutsch!“ Und: „Schleich dich!“ - Seit wir hier lebten, benutzte sie immer öfter wienerische Floskeln. Nach Thomas bekommt das Ehepaar Brasch alle fünf Jahre drei weitere Kinder, Klaus, Peter und Marion. Die Vornamen ihrer Brüder fallen im gesamten Buch ebenso wenig, wie die Vor- oder Zunamen der Eltern, der Omas („Oma Potsdam“ und „Oma London“), aber auch nicht von Personen, die eigentlich nicht als Romanfiguren, sondern als Personen des Zeitgeschehens genannt werden. Wie Franz Josef Strauß, Helmut Kohl, Erich Honecker oder Wolf Biermann). Am Rande streifen andere bekannte Personen den Weg der Familie oder eines ihrer Mitglieder, so Heiner Müller als „der Dichter mit der weiten Stirn“, oder Tony Curtis als „Hollywoodstar, den wir alle als Mann in Frauenkleidern in einer Komödie mit Marylin Monroe kannten“. Und für die Sängerin Bettina Wegner, Mutter des von Thomas Brasch bald abgelehnten 1968 geborenen Sohnes, reicht der Erzählerin eine ebenso knappe Bezeichnung wie für die Schauspielerin Katharina Ihalbach, lange Oktober 2012 57