OCR
Jahre mit Thomas Brasch verbundene Freundin („Ich habe ein Leben mit Dir gelebt dreiunddreißig Jahre lang.“ So Katharina Thalbach im Jahre 2004). Als die Mutter an Krebs stirbt, ist die Tochter vierzehn. Die Mutter hatte dort und da als Journalistin von Lokalzeitungen gearbeitet („... und mochte ihren Job nicht besonders“), sich aber auch literarisch versucht; inwieweit auch öffentlich, ist unklar. Dass der Vater kurz zuvor in den Freitod gehen wollte, was nur an der Geistesgegenwart seiner mit ihm allein lebenden Tochter scheiterte, geht aus dem Buch nicht hervor. Wohl aber, dass er damals mit den Nerven am Ende war. Sicherlich auch durch die Krebserkrankung seiner Frau, die er den Kindern, insbesondere der Tochter gegenüber bis zuletzt zu bagatellisieren versucht hatte. In einer Gesellschaft von angeheiterten, von der Tochter als Wichtigmänner bezeichneten, Funktionären hatte er eines Tages sein Parteibuch auf den Tisch geknallt und „die sprachlose Runde“ verlassen. „Seine scheiß Partei und sein scheiß Katholizismus“, wird der älteste Bruder Jahre später zur Schwester sagen. Zu diesem Zeitpunkt ist der Schriftsteller Thomas Brasch bereits längst aus dem Land gedrängt. Nach Protestaktionen gegen die Okkupation der Tschechoslowakei 1968, Mitunterzeichnung gegen die BiermannAusbürgerung 1976 und Publikationsverbot. Die 1968 Mitbeteiligte und Kurzzeitgeliebte Bettina Wegner hat über ihre Beweggründe einmal Folgendes erzählt: In der Gerichtsverhandlung hat mich die Richterin gefragt: „Haben Sie nicht an ihr Kind gedacht, als Sie das gemacht haben?“ Ich habe an mein Kind gedacht, vorher. Ich habe daran gedacht, wie war das mit unserer Generation und der Generation unserer Eltern? Wir haben alle gefragt: Was habt ihr gedacht und gemacht von 1933 bis 1945? Ich dachte einfach, wenn der Sohn mich mal fragt, was hast du damalsgemacht, dann kann ich sagen: „Det hab‘ ick jemacht.“ Solche Sätze haben in Marion Braschs Buch keinen Platz. Wahrscheinlich zu Recht. Ihre Sprache ist eine andere. Die Ich-Erzählerin rettet sich vor den Brüchen, Katastrophen und Zumutungen des familiären und gesellschaftlichen Umfelds durch Lakonie und Distanz. Diese werden noch verstärkt dadurch, dass sie immer wieder scheinbar völlig belanglose Episoden schildert, deren Sinn sich während des Lesens nicht wirklich erschließt. Die Distanz zur widersprüchlichen Realität wird erst langsam und vorsichtig geringer, als sie gegen Ende des Romans während des Umsturzes im Herbst 1989 stolpernd ins gesellschaftliche Geschehen gerät. Und zur Stimme der Revolte im Jugendradio wird. Zuvor aber sind es einerseits die Brüder, denen ihre Bewunderung und ihr Staunen gilt und andrerseits der Respekt vor dem Vater, den sie nicht alleinlassen will. Auch nicht politisch, weshalb sie irgendwann auch in die Partei eintritt, „weil du es von mir erwartet hast und weil ich zu feige war, es nicht zu tun“, wie sie ihm später erklärt. „Warum sollte ich denn freiwillig in eine Partei gehen, wegen der du dich beinahe umgebracht hättest?“ ( In einer seltsamen und dennoch nicht uncharakteristischen Wendung wird der West-Bruder — Thomas — noch 1989, nach ihrem Parteiaustritt rund um den Tod des Vaters, erklären: „Es ist falsch. Ich würde sofort in die Partei eintreten, wenn ich könnte.“) Der Vater erlebt nicht nur die Lebenswege seiner Kinder als Versagen seinerseits, sondern, damit verknüpft, immer mehr auch seine eigene Geschichte als Scheitern. Als er nicht lange vor seinem Tod mit der Tochter einige Tage in seine Exilstadt London fährt, um ihren Großvater zu besuchen, bricht es am Grab von Karl Marx aus ihm heraus: „Sie haben uns nicht gut behandelt, als wir aus England zurückkamen‘, sagte er bitter. “Wir waren Westemigranten, das machte uns in ihren Augen suspekt. Wir hatten nicht im KZ gesessen, wir waren nur Verfolgte zweiter Klasse, also waren wir auch nur gut genug für die zweite Reihe.“ „Welche zweite Reihe?“ „Stellvertretender Kulturminister, Zweiter Sekretär, Vizepräsident... zweite Reihe eben. Das war kein Zufall, das hatte System. Sie haben uns in die Schranken gewiesen.“ Dennoch ist ihm das, was er als politische Tätigkeit begreift, das über ominöse „Pflichterfüllung“ aber letztlich kaum hinausgeht, selbst dann noch wichtiger, als der mittlere Sohn (Klaus), der, ein erfolgreicher Schauspieler, an Vergiftung durch Alkohol und Medikamente dreißigjährig stirbt. Und bis zum Schluss begreift er nicht, wie sehr er seinen ältesten Sohn in frühester Jugend verwundet hat, als dieser aus der Kadettenschule der Nationalen Volksarmee heraus wollte. Der Vater stirbt im August 1989 einsam und zurückgezogen an Krebs. Ich riefmeinen jüngsten Bruder an. „Da waren es nur noch drei“, sagte er und machte sich die nächste Flasche Bier auf. Bruder Peter sollte seinen Vater nur um zwölf Jahre überleben. In Hassliebe auch zu seinem älteren Bruder. Und zu diesem auch in nicht aus der Welt zu schaffender schriftstellerischer Konkurrenz, die ihn schon frühzeitig in Verzweiflung, Sarkasmus und Haltlosigkeit gedrängt hatte. Und wenige Monate später, im selben Jahr, versagt das Herz des älteren Bruders nach jahrelanger Schädigung des Körpers durch Alkohol und Kokain. „Und ab jetzt ist Ruhe“, beendet die Ich-Erzählerin ihre Aufzeichnungen, nachdem sie am Neujahrstag nach dem letzten Tod fünf Rosen auf die verschiedenen Gräber gelegt hatte. Es sind die Kindheitsworte zur von der Mutter bestimmten Nachtruhe, jeder immer ein Wort. Ab — jetzt — ist — Ruhe. Doch Thomas Brasch hatte lange zuvor das Dasein im Exil komprimierend niedergeschrieben: Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber wo ich bin, will ich nicht bleiben, aber die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber die ich kenne, will ich nicht mehr sehen, aber wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber wo ich sterbe, da will ich nicht hin: Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin. Karl Wimmler Marion Brasch: Ab jetzt ist Ruhe. Roman meiner fabelhaften Familie. Frankfurt/M.: S. Fischer 2012. 400 S. Euro 19,99% 20,60 (A) Der Klappentext des Buches kündigt die Auseinandersetzung mit einer „intimen Freundschaft“ an, „in der es um Schein und Sein, Liebe und Verrat, Unterwerfung und Selbstverwirklichung ging“. Ganzä la Hollywood, das ja ihr Thema ist, weiß Nicole Nottelmann flott und pointiert zu erzählen: Anekdotisches und Erotisches, (schöne) Körperlichkeit und seelische Befindlichkeit, „Geheimcodes“ und Glamour stehen im Vordergrund ihrer Erzählung. Das führt leider vor allem im Bezug auf die Schauspielerin und Drehbuchautorin Salka Viertel (1889 — 1978) 58 _ ZWISCHENWELT — deren Behandlung uns im Kontext der Exilforschung zuvörderst interessiert — zu missverständlichem Schein und missverstandenem Sein. Interessant an Nicole Nottelmanns Buch ist nämlich, wie sie, obwohl sie sich ganz auf die Interpretation von bereits publiziertem Material konzentriert — Neues sie kaum bei - ein ganz neues biographisches Konstrukt von Salka Viertel schafft. Als Analytikerin und Detektivin meint sie der „wirklichen“ Salka Viertel auf die Spur gekommen zu sein und stellt sich damit in die Tradition einer Trivialbiographik, die mit Klischees und Stereotypen die biographische Wahrheit einer Person als feststehend behauptet, obwohl biographietheoretisch klar ist, dass diese biographische Wahrheit „durch auch noch so genaue Rekonstruktionsarbeit“ nie „definitiv geklärt“ werden kann und nur „mit jedem biographischen Projekt neu verhandelt“ werden kann (Bernhard Fetz). Ausgangspunkt des Buches ist Greta Garbos und Salka Viertels erste Begegnung im Frühjahr 1930. Damals war — so das bisher verhandelte Salka-Viertel-Bild — die 40-jährige Salka Viertel