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Zum 100. Geburtstag Jean Amerys Jean Améry (eigtl. Hans Mayer), am 31. Oktober 1912 in Wien geboren, gilt als einer der wichtigsten Autoren, die über die Shoah schrieben. Er selbst war als Widerstandskämpfer der Resistance 1943 in Brüssel verhaftet, in Breendonk gefoltert und daraufhin nach Auschwitz-Monowitz deportiert worden. Nach seiner Befreiung aus Bergen-Belsen kehrte er nicht mehr nach Österreich oder Deutschland zurück, sondern lebte in Brüssel — in engem Kontakt mit der französischen Literatur und Philosophie, aber nur im deutschsprachigen Raum publizierend. Gerade die Biographie von Irene Heidelberger-Leonard (2004, inzwischen ins Englische, Französische und Spanische übersetzt) wie auch die bei Klett-Cotta erschienene Werkausgabe (2002-2009) haben in jüngster Zeit deutlich gemacht, wie sehr Amery als Überlebender in der Literatur und Philosophie aus Frankreich etwas wie neuen Halt nach der Katastrophe fand und eine Sprache, die eigenen Erfahrungen zum Ausdruck zu bringen. Durch diese Nähe konnte er umgekehrt seit den späten fünfziger Jahren im gesamten deutschsprachigen Raum zu einem der bedeutendsten Vermittler der Philosophie und Literatur aus Frankreich werden. Kurz bevor er sich im Herbst 1978 in Salzburg das Leben nahm — während einer Lesereise mit seinem letzten Buch Charles Bovary —, schrieb er in einem Brief, es sei vielleicht der größte Fehler seines Lebens gewesen, dass er sich 1945 nicht entschlossen habe, ein französischer Schriftsteller zu werden. Gerhard Scheit Jean Améry ware heuer am 31. Oktober 100 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass lud die Theodor-Kramer-Gesellschaft am 5. Oktober zum Symposium Jean Amery und die französische Welt — Ein Workshop zum 100. Geburtstag in den Republikanischen Club- Neues Österreich ein. Von 15:00 bis 21:00 angesetzt, schuf die Tagung zugleich den Rahmen für eine offene Redaktionssitzung anlässlich der Améry-Ausgabe der Zwischenwelt. Rund 80 Personen haben am Workshop teilgenommen. In den insgesamt sechs Beiträgen des Symposiums würdigten die TeilnehmerInnen aus Wien und Berlin das Verdienst des Exilschriftstellers mit Augenmerk aufseine Beziehung zur französischen Sprache und Kultur. Die Trias Identität — Philosophie — Politik bildete einen thematischen Fixpunkt der Vortragsreihe, die von Birte Hewera mit einer Analyse der Kritik Jean Amerys am Strukturalismus und seiner Vormachtstellung in der intellektuellen Welt Frankreichs eingeleitet wurde. Frankreich wurde ihm zur Ersatzheimat, die Entdeckung der französischen Sprache erlebte er als zweite Menschwerdung. Eine Rückkehr nach Österreich, das sich nach 1945 in der Rolle des ersten Opfers gefiel, war ihm unmöglich, der Verlust des kulturellen und politischen Gemeinwesens unwiederbringlich. Wie Konstantin Kaiser in seinem Beitrag darlegte, sah Jean Améry als Vertreter eines kritischen Rationalismus im Strukturalismus die massenwirksame Artikulation eines diffusen Bedürfnisses nach einem Neuanfang und nach Befreiung von den Fesseln der wissenschaftlichen Rationalität. Im Unterschied zur Kritischen Theorie sei der Strukturalismus eine Denkrichtung, die sich philosophisch nicht verantwortet, sondern einen direkten Zugang zum Sein behauptet. Durch die Beliebtheit der strukturalistischen Ideen verlor Sartres Philosophie der Freiheit an Bedeutung. In ihrer Lektüre von Sartres Reflexions sur la question juive von 1946 stellte Miriam Mettler den Bezug zur jüdischen Identitatsproblematik bei Jean Améry her. Von den Nazis zum Juden ernannt und gemacht, sah sich Améry sowohl mit dem Zwang, als auch der Unméglichkeit, Jude zu sein, konfrontiert. Gerhard Scheit beleuchtete in seinem Vortrag die Faszination Amérys fiir Sartres Schriften wie auch seine Kritik an Sartres Freiheitsbegriff, der die physische Bedingtheit des Menschen, sein Gebundensein an den K6rper ausklammert. Fiir Améry, der die Folter vor dem Hintergrund der drohenden Vernichtung am eigenen Leib erlitt, bestand die Essenz des Nationalsozialismus in der Tortur. Die letzten beiden Vorträge waren Jean Am£rys Beziehungen zu Andre Gorz und Claude Lanzmann gewidmet und thematisierten seine Stellungnahme zur Position der existenzialistischen Linken im öffentlichen Diskurs um den Sechs-Tage-Krieg 1967. Jürgen Doll zeigte bedeutende Parallelen in der Biographien von Jean Améry und Andre Gorz, Journalist bei Le Nouvel Observateur, auf, allen voran die Namensänderung der beiden exilierten Schriftsteller, die als Symptom derselben Identitätsproblematik gesehen werden kann. Die Forderung nach Solidarität mit dem jüdischen Staat Israel, dessen Existenz 1967 bedroht wurde, verband Jean Amery mit dem Filmemacher Claude Lanzmann, so Christoph Hesse in seinem Beitrag über Am£rys Kritik an der Gleichgültigkeit der Linken, die zur Zeit des Sechs-Tage-Krieges Israel ausnahmslos als Aggressor wahrnahm. Hauptpunkte der Diskussion waren demnach die Position der linken Gruppierungen Mitteleuropas gegenüber Israel in den 1960er Jahren und die Frage nach einer adäquaten Differenzierung zwischen Antisemitismus und Antizionismus. Kurz erwähnt wurde von Julia Schweiger (Kunsthandlung Widder) die künstlerische Wahlverwandtschaft Jean Am£rys mit einem seiner engsten Freunde, dem österreichischen Exilkünstler Erich Schmid. Intermediale Bezugspunkte finden sich zum Beispiel in der literarischen Darstellung der Biographie Schmids in Amérys Lefeu oder der Abbruch. Am 17. November findet an der Freien Universität Berlin ein weiteres Symposium unter dem Titel An den Grenzen des Geistes —zum 100. Geburtstag von Jean Amery statt. Am 27. November liest Anne Bennent Jean Améry Texte im Souterrain des Café Priickel in Wien, dem ehemaligen Theater der Courage von Stella Kadmon, wo 1950 das erste Mal in Österreich ein Theaterstiick von Sartre gespielt wurde. Judith Aistleitner November 2012 5