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Jean Améry Gestatten Sie mir bitte, meine Damen und Herren, eine kleine Abschweifung vom eigentlich zur Diskussion stehenden Thema, eine paraphrasierende Randbemerkung, von der ich wirklich hoffe, daß sie uns zu unserem zentralen Vorwurf zurückführen wird. Ich spreche über ein Mißverständnis und seine Folgen. Erinnerungen aus der Frühzeit geben mir das Leitmotiv. In der kleinen österreichischen Provinzstadt, in der ich die Unterstufe des Gymnasiums besuchte, hatten wir einen deutschnationalen Turnlehrer, der uns fast in jeder Stunde seines sich Unterrichte nennenden Wirkens mit Nachdruck erklärte: „Mens sana in corpore sano — das heißt: nur in einem gesunden Körper kann ein gesunder Geist wohnen“, worauf er uns auf blödsinnige Weise halbmilitärische Übungen vornehmen ließ, die den Körper ermüdeten, ohne ihm wohlzutun, und vom Geist war natürlich bei diesem wild gebrüllten „Rechtsum“, „Linksum“, „Habt acht“, (der österreichischen Formel für das noch ärgere „Stillgestanden!“) die Rede überhaupt nicht. — Wir wußten noch nichts von Juvenal, auf den der Ausspruch des Desideratums zurückgeht, aber so viel Latein verstanden wir auch schon, um uns klar zu sein, daß hier keine Bedingung gestellt wurde, sondern die fünf Wörter einfach hießen: Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper. Aber wir argumentierten nicht einmal innerlich mit dem gestrengen Nachfahren des Turnvaters Jahn, sondern nahmen die Parole hin, wie sie uns vorgesetzt ward, überzeugt am Ende, daß man nur fleißig trampeln und stampfen müsse, um geistiger Gesundheit sich zu erfreuen, daß also die halbmilitärisch-sportliche Leistung, die wir vollbrachten, uns vor gräßlichen und gesundheitsgefährlichen Lastern, wie der uns mit fürchterlichen Farben hingemalten Onanie bewahren und uns ein sittlich wie intellektuell befriedigendes Zeugnis sichern werde. Der Unsinn ging uns, wie man so sagt, „in Fleisch und Blut“ über - und es mag sein, daß die spätere Sportbegeisterung so manches Kameraden, aber auch die Freude erst am Kriegsspiel und schließlich am Bluthandwerk selber zurückzuführen ist auf des Turnlehrers sinistre Strammheit und seine mangelhafte Kenntnis des antiken Leib-Seele-Ideals. Daf in der Tat der Satz ,,mens sana in corpore sano“, aufgefaßt, wie ich es hier skizzierte, ein Unsinn ist, geht aus der Geistesgeschichte mit überzeugender Deutlichkeit hervor. Die Beispiele dafür, daß gewaltige geistige und künstlerische Leistungen einem defizienten Organismus, einem leidenden Körper abgerungen wurden, ja vielleicht infolge des Leidens zur Manifestation gelangten, sind so zahlreich, daß es ganz sinnlos wäre, wollte ich Ihnen gleichsam die vielen Namen, die mir in den Sinn kommen, um die Ohren schlagen. Lassen Sie mich statt dessen nur zwei geistig schöpferische Persönlichkeiten nennen, weil diese beiden mir besonders nahe stehen und ich mein geistliches Leben in der liebenden Verehrung für sie hinbrachte, einen Deutschen und einen Franzosen: Thomas Mann und Marcel Proust. Der Erstgenannte, wiewohl nicht an ernstlicher Krankheit leidend, war stets doch recht anfällig und das genaue Gegenteil dessen, was wir uns unter einem mit seiner Physis in glücklichem Einverständnis lebenden und aus diesem Einverständnis geistige Sicherheit gewinnenden Menschen vorstellen. Vor allem aber hat er in seinem Werk physische Unzulänglichkeiten geradezu als eine Bedingung geistiger 6 _ ZWISCHENWELT Selbstbekräftigung dargestellt — und dies nicht nur im „Zauberberg“, wo Hans Castorp, der simple Junge aus dem Flachland erst durch den Kontakt mit der Krankheit, mit der gesteigerten febrilen Verbrennung in dünner Luft, gestimmt und befähigt wird, die operationes spiritualis mit seinen gleichfalls kranken, um seine arme kleine Seele kämpfenden Mentoren Naphta und Settembrini zu vollziehen. Die Krankheit führt ihn zum Geist und zur Liebe. Ohne die „feuchte Stelle“, die Hofrat Behrens im Röntgenbild seiner Lunge feststellt, wäre er nichts als der kleine Werftingenieur und Zigarrengenießer, als der er uns auf den ersten Buchseiten entgegentritt. Aber nicht nur im „Zauberberg“ ist für Thomas Mann die Krankheit ein Teil des geistigen Seins. In den „Buddenbrooks“ ist der Senator erst in jenem Augenblick zur Schopenhauer-Lektüre geneigt, da er gesundheitlich schon angeschlagen ist. Für den kranken Dichter Axel Martini in der „Königlichen Hoheit“ hat die Dichtung kompensatorische Funktion; in der Novelle „Schwere Stunde“ ist es der leidende Schiller, der aus seiner Krankheit und - in dialektischem Widerspiel - zugleich gegen sie sein großes Werk, den „Wallenstein“ schafft, und so geht es durch das ganze Oeuvre Thomas Manns hin bis zum Ende, bis zu Adrian Leverkühn, der die Krankheit sucht, sie im wörtlichen Sinne „sich holt“, um, fern aller Wonnen der Gewöhnlichkeit, das ganz und gar Außergewöhnliche zu vollbringen. Und muß ich erst noch lange über den anderen sprechen, über Marcel Proust, der die Krankheit als Bedingung seiner geistigen Existenz selbst erfahren hat? Ist ein in Gesundheitsprächten, den kaum noch vernehmbaren Schwingungen der seclisch-geistigen Existenz lauschender, die „intermittances du coeur“ erlebender und nachzeichnender Narrator eine Denkbarkeit? Thomas Mann und Marcel Proust, der eine vor allem in seinem Werk, der andere, frappierender, in seiner Existenz, sind beide die überzeugendsten Exempel dafür, daß es für den Geist nicht ankommt auf jene gesunde physische Verfassung, die uns die Sport-Ideologie als einen Fetisch präsentiert, von dem sie unbedingt möchte, daß er hinüberrage ins Geistige. Doch gilt es an dieser Stelle bereits, einen möglichen, ja wahrscheinlich zur Argumentation ansetzenden Einwand zu entkräften. Gut, höre ich sagen, Proust, Thomas Mann oder auch Schiller oder auch Nietzsche oder Verlaine oder wer immer als Exempel für physische Kümmerlichkeit und gleichzeitig hohe geistigkünstlerische Potenz als Zeuge aufgerufen worden sei! Da ist vielleicht Geist im kranken oder gefährdeten Körper. Aber ist es auch gesunder Geist? Eine solche Frage drängt sich in der Tat auf. Es läßt sich aber die Antwort auf sie bei genauerer Ausforschung des Problems überraschend leicht finden, und sie sei hier erteilt, unbekümmert um das, was allenfalls Ärzte und Psychiater noch vorbringen mögen. Was die Gesundheit des Leibes angeht, so haben wir für sie objektive Kriterien, die freilich allerwegen erst aus den Beschreibungen subjektiver Befindlichkeit gewonnen wurden, richtiger gesagt: die zu erlangen erst Anlaß bestand, nachdem Befindlichkeiten kundgetan wurden, sei es wörtlich-deskriptiv, sei es durch Gesten und Laute, Schmerzenslaute, um das Wort gleich hinzusetzen, das uns