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ins Zentrum des Problems hineinleiten soll. Dieses liegt in dem Faktum, daß die leibliche Krankheit — oder sprechen wir vielleicht besser von leiblicher Mißbefindlichkeit - als solche empfunden wird, während die Gesundheit, das Wohlbefinden des Körpers, sich nur negativ spürbar macht: der physisch Gesunde hat einen Körper, indem er ihn nicht hat, d.h. von ihm keine Kenntnis nimmt; der Körper ist dann, wie Sartre es gesagt hat, „le neglige“; das, womit wir uns nicht zu befassen brauchen, das uns keine Mühe bereitet. Noch anders ausgedrückt: Die körperliche Gesundheit besteht in einem Gleichgewicht der Funktionen, das uns ermöglicht, uns über unsere leibliche Existenz völlig hinwegzusetzen. — Aber ist es nicht auch so, daß wir unter Umständen unseren Leib schr wohl als einen solchen empfinden, lustvoll empfinden, meine ich, indem wir ihn beherrschen, wie das eben im Sport der Fall ist? Ich will nicht sagen, daß der hypothetische Begriff einer körperlichen Funktionslust unmöglich und unfruchtbar sei für die Beschreibung unserer Befindlichkeiten. Persönlich neige ich allerdings zu einer anderen Hypothese, die ich gelegentlich bei einer Studie über das Altern entwickelt habe und die in der modernen Phänomenologie der Leiblichkeit gründlich dargelegt wurde, in Frankreich von Merleau-Ponty, in Deutschland namentlich durch den Arzt und Anthropologen Herbert Plügge. Im Sinne dieser Deutungen würde ich dann sagen, daß der funktionsfreudige Körper im harmonischen Funktionieren seiner nicht als Körper gewahr wird, sondern als Gewinn und Bewältigung des Raumes. Der Leib, so argumentieren die Phänomenologen, die viel über das Problem nachgedacht haben, ist in seiner Gesundheit allerwegen „dort“, aufer seiner, in jenem Raum, den er ausschreitend, laufend, springend, reitend, auf Skiern dahingleitend, schwimmend usw. bewältigt und der Person untertan macht, im Raum, den die Person sich ein-verleibt. Er geht funktionstüchtig ein in die Welt und nimmt zugleich diese Welt in sich auf. Erst wenn der Mensch durch einen an die Funktionskraft seines Körpers gestellten Überanspruch an den Grenzen anlangt oder, wie dies oft genug im quantitativ bemessenen Leistungssport der Fall ist, diese Grenzen überschreitet, wenn ein rasendes Herz, fliegender Atem, schmerzende Glieder das Gleichgewicht stören und das Befinden, das eben noch ein Nicht-Befinden war, zum Mißbefinden wird, bekräftigt der Leib als Lastleib seine Existenz. Und gar erst wenn Krankheit sich einschleicht, wird in seinem Ungleichgewicht der Körper recht eigentlich existent: der Herzleidende „spürt“ nicht nur sein Herz, sondern wird zu seinem schmerzenden Herzen; der an heftigen Zahnschmerzen Leidende konzentriert sein Ich um den kranken Zahn; der Bein- oder Armamputierte schließlich entwickelt das Phantomglied, das in seiner Unwirklichkeit zum quälendsten Realitätselement seiner Person wird. Ist es also an dem, daß der „gesunde“, im Gleichgewicht befindliche und darum den Menschen nicht weiter beschäftigende Leib optimal funktioniert gerade dann, wenn wir uns seines Funktionierens nicht bewußt werden, so ist andererseits der Geist, sofern er mehr ist als operationelle Intelligenz, dort am kraftvollsten präsent, wo sein Gleichgewicht gestört ist. Darum gibt es auch für „Gesundheit“ des Geistes - und damit antworte ich auf die Frage, ob denn geistige Phänomene wie Thomas Mann oder Marcel Proust als gesund bezeichnet werden diirfen — kein rechtes Kriterium. Der Geist ist seinem Wesen nach Unruhe, qualende Frage, Sensibilität, Irritierbarkeit. Er wird nicht erst dann als Last empfunden, wenn er in seiner Funktionsfähigkeit gestört ist; im Gegenteil: er macht sich lastend fühlbar, sobald er überhaupt sich regt, er ist niemals im gleichen Sinne wie der Körper „gesund“ — und es ist eine grundeinfache logische Operation, zu erschließen, daß er darum auch nicht im selben Verstande wie der Körper „krank“ sein kann — denn das, was wir Geisteskrankheit nennen, ist eher ein objektiv-soziales Phänomen sogenannten Realitätsverlustes als ein subjektives, das hat die moderne Antipsychiatrie von Männern wie Laing und Cooper, was immer man gegen sie einwenden mag, immerhin schr geistvoll herausgearbeitet. Um nun zu unserem Thema zuriickzufinden: Darf man also die These erhärten, daß ein als solcher gar nicht definierbarer, „gesunder“ Geist in einem gesunden Körper eine ihm zuträglichere Heimstatt hat als in einem leidenden? Zum Teil habe ich diese Frage schon eingangs an den von mir gewählten Beispielen Thomas Mann und Proust beantwortet. Hinzufügen läßt sich vielleicht noch dies: der sich selbst nicht verspürende Leib ist, wie ich es darlegte, auf die Welt, auf das Außen hin gerichtet, wobei ich unter „außen“ den realen Raum verstanden wissen möchte. Der fragende Geist ist dagegen sein eigener Brennpunkt. Damit meine ich nicht, er erschöpfe sich in permanenter Introspektion — diese ist ja im äußersten Falle eine narzißtische Neurose. Vielmehr will ich sagen, daß der Geist die Elemente der Außenwelt in sich aufnimmt und reflektierend verarbeitet, sich aber niemals umgreifend an sie verliert. Der Geist ist, um das von Kant auf die Zeit gemünzte Wort zu variieren: die Anschauungsform des inneren Sinnes. Diesem fragenden, im Ungleichgewicht befindlichen, von der Welt irritierten „inneren Sinn“ ist nun, wie ich glauben möchte, eine körperliche Verfassung, welche den Schritt der Person nach außen hemmt, welche ihrerseits ein Ungleichgewicht, also: ein Zustand des Leidens ist, eher förderlich. Damit will ich nicht die gewagte Behauptung aufstellen, daß nur in einem kranken Körper ein kraftvoll sich regender Geist wohnen könne — das wäre barer Unsinn, zumal ja ein wirklich quälendes Leiden die Person so sehr aufzehrt, daß das Ungleichgewicht des Geistes sich gar nicht erst fühlbar machen kann. Es lag mir nur daran, die Begriffe von körperlicher Gesundheit einerseits, geistiger andererseits präziser zu definieren, um eine auf der falschen Vorstellung geistig-physischer Harmonie beruhende Sport-Ideologie als ein Mißverständnis darzustellen. Ausdrücklich sei wiederholt: Ein leidender Leib ist für geistige Schöpferkraft keine notwendige, geschweige denn eine ausreichende Bedingung. Es läßt nur die Geistesgeschichte vermuten, daß eine gewisse physische Defizienz den Menschen zu jenem Ungleichgewicht des Geistes, das zur beunruhigten Frage und schließlich zum Werke führen kann, prädisponiert. Eine Überschätzung der physischen Fitness und gar der quantitativ meßbaren sportlichen Leistungsfähigkeit ist wesentlich ungeistig, um nicht klar zu sagen: dem Geiste feindlich. Unveröffentlichtes Vortragsmanuskript von Jean Amery aus dem Jahr 1972. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Deutschen Literaturarchivs, Marbach am Neckar, und des KlettCotta Verlags, Stuttgart. Die Redaktion bedankt sich auferdem bei Birte Hewera. November 2012 7