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Birte Hewera La douce France? 1966 prognostiziert Michel Foucault, „daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“!. Dass dieser Satz keine Empörung erregt, sondern von einer breiten Anhängerschaft geteilt wird, zeigt, dass sich die von Amery befürchtete Tendenzwende in Frankreich — und nicht nur dort - vollzogen hat: nämlich die Ablösung Sartres, der seit der Nachkriegszeit die intellektuelle Szene geprägt hatte, durch den Strukturalismus. Améry ist einer der ersten, die sich in deutscher Sprache einer Kritik am Strukturalismus widmen, lange bevor dieser in Deutschland iiberhaupt spruchreif ist. Torkeln über schwanken Boden: Exil Amery wendet sich dem französischen Geistesleben als einer Art Heimat-Ersatz zu. Denn nach dem so genannten „Anschluss“ Österreichs ans Deutsche Reich ist er zur Flucht aus seiner Heimat gezwungen. Dabei demaskiert er viele Jahre später die Selbststilisierung Österreichs als „das erste Opfer des Nationalsozialismus“. Amery beschreibt, wie in seiner Heimat nach der Machtübernahme „ein durch Wochen dauerndes Fest der Deutschheit“ gefeiert wird’. Durch die Machtübernahme der Nazis verliert Jean Améry alles, noch rückwirkend wird seine Identität demontiert: Wir aber hatten nicht das Land verloren, sondern mussten erkennen, dafs es niemals unser Besitz gewesen war. Für uns war, was mit diesem Land und seinen Menschen zusammenhing, ein Lebensmissverständnis. Wovon wir glaubten, es sei die erste Liebe gewesen, das war, wie sie drüben sagten, Rassenschande. Was wir gemeint hatten, es habe unser Wesen ausgemacht — war es denn jemals etwas anderes als Mimikry?® Dieser Heimatverlust wird auch nach der Befreiung durch die Alliierten nicht unwirksam. Die deutsche respektive österreichische Gesellschaft äußert weder Schrecken und Scham angesichts der Verbrechen, die den Opfern in ihrem Namen angetan wurden, noch lässt sich ein laut artikuliertes Verlangen nach Rückkehr der Verstoßenen und der wenigen Überlebenden vernehmen, vielmehr beherrschen Verdrängung und Leugnung die Atmosphäre. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass eine Rückkehr für Amery unmöglich erscheint. Er beschreibt den Heimatverlust als eine „schleichende Krankheit ..., die mit den Jahren schlimmer wird.“* Von seinem belgischen Exil aus befasst sich Améry mit dem französischen Geistesleben. Zwar kann der gewaltsame Verlust seiner eigentlichen Heimat nicht aufgehoben werden, dennoch schreibt Améry: „er traf die französische Sprache an und wurde zum zweiten Mal ein Mensch.“° Nach der Befreiung entdeckt er Sartre. Dessen geistige Vorherrschaft im Frankreich der Nachkriegszeit ist an die Erfahrung von Krieg, Besatzung und Widerstand gebunden. Auch auf Amery übt Sartre eine Faszination aus, die ein Leben lang anhalt. Die Bedeutung Sartres fiir Améry ergibt sich aus dem Erlittenen, aus der Erfahrung von Folter und KZ im Nationalsozialismus. War Améry von den Nazis zu einem Zu-Tötenden gemacht worden, zu einer bloßen Nummer, die 8 _ ZWISCHENWELT es auszulöschen galt, so sind es die philosophischen Kategorien der Freiheit und des Entwurfs, die ihm eine Zukunft nach und jenseits von Auschwitz möglich erscheinen lassen. Der Untergang des Abendlandes Jedoch, während Am£ry noch mit den Kategorien Sartres befasst ist, schlägt der Strukturalismus in Frankreich ein wie eine Bombe. Der Begriff des Strukturalismus löst eine Revolution aller Humanwissenschaften aus und wird den Blick auf die menschliche Gesellschaft unumkehrbar verändern‘. Dies bedeutet auch ein Ende der Vorherrschaft Sartres und seiner Philosophie der Freiheit. Das klingt dann in etwa so: Wir haben die Generation Sartres als eine durchaus mutige und grofsherzige Generation empfunden, die sich für das Leben, die Politik, die Existenz leidenschaftlich einsetzte... Wir jedoch, wir haben für uns etwas anderes entdeckt, eine andere Leidenschaft, die Leidenschaft für den Begriff und für das, was ich das ‚System‘ nennen möchte...’ Auch wenn sich das Aufkommen des Strukturalismus schwerlich eindimensional erklären lässt, kann es doch nicht von der Erfahrung des Holocaust abstrahiert werden. Diese Erfahrung muss zu einem Abdanken der Fortschrittsgewissheit überhaupt führen. Ein Sinn kann der Geschichte schlechterdings nicht mehr unterstellt werden. Das so entstandene Sinndefizit wird in der Mitte der 50er Jahre noch durch Ereignisse wie die Niederschlagung der ungarischen Revolution oder den Algerienkrieg bestärkt, Michel Foucault dazu: „1956 ... hat dazu geführt, daß wir nicht mehr dazu verpflichtet waren, etwas zu hoffen.“® So führen die Brüche des 20. Jahrhunderts zu einem tief greifenden Geschichtspessimismus und leiten die postmoderne Ära und mit ihr das Aufkommen einer „erkalteten Zeitlichkeit“ ein?. Diese „Erkaltung“ — Francois Dosse spricht von einer „Gegenwart ohne Werden“ — resultiere daraus, dass die Gegenwart nun nicht mehr als Antizipation der Zukunft, sondern nur noch als Feld eines möglichen Recyclings der Vergangenheit gedacht werde!". Qualifiziert man das postmoderne Denken als Bewältigungsversuch angesichts der Brüche des 20. Jahrhunderts, könnte man zu dem Ergebnis kommen, dass hier ein Umschlagen in eine ganz undialektische Negativität auszumachen ist, wie es Frangois Dosse nahelegt: Die „vom abendländischen Rationalismus Enttäuschten“ schlagen nun die Gegenrichtung zum optimistischen Rationalismus ein, um in eine Art Nihilismus, ein Schwellendenken an den Grenzen von Sinn und Unsinn zu verfallen.‘ Man könnte jedoch auch wie Henri Lefebvre zu der Einschätzung gelangen, dass anstatt dieses Nihilismus eine völlig unkritische Affirmation der technokratischen Gesellschaft am Werke ist'”. Damit wäre der Strukturalismus als Versuch der Bewältigung ebenfalls gescheitert, stellt er doch bloß noch eine Verdoppelung der miserablen Realität dar.