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Erkaltete Zeitlichkeit Die französische Linke schüttet gewissermaßen das Kind mit dem Bade aus, indem sie die Idee der Geschichtlichkeit des Menschen und der Gesellschaft verwirft. Diese Absage an die Geschichte schlägt sich methodisch unmittelbar in dem ahistorischen, synchronen Vorgehen des Strukturalismus nieder. Dies geht bereits auf die strukturale Linguistik Ferdinand de Saussures zurück, den die Strukturalisten — insbesondere Claude Lévi-Strauss — auf der Suche nach einer angemessenen Methode beerbt haben. De Saussure legt den Grundstein fiir den Ubergang des geschichtlichen, diachronen zum synchronen Vorgehen, indem er von der historischen Sprachforschung abrückt und danach fragt, wie eine Sprache aufgebaut ist und wie sie beschrieben werden kann’. Elemente werden nicht nach ihrer konkreten Bestimmung und Beschaffenheit, sondern bezüglich ihrer Stellung in einem umfassenden System und ihrer Beziehung zu anderen Elementen innerhalb dieses Systems betrachtet. Handelt es sich hier bereits um einen Vorrang der Form vor dem Inhalt, so werden die späteren Strukturalisten den Inhalt durch die Form ersetzen und damit zur Beliebigkeit degradieren. Sprache gilt dabei nicht mehr als Abbildung einer unabhängig von dieser Sprache bestehenden Wirklichkeit, sondern die Beziehung der Bezeichnung zum Bezeichneten wird als arbiträr betrachtet'‘. Dies ebnet den Weg für einen Konstruktivismus, der nicht auf die Sprache beschränkt bleibt. Die strukturale Anthropologie Lévi-Strauss’ impliziert eine Wahrnehmung der Welt, „die zwischen alle Formen sozialer Organisation ein Aquivalenzzeichen setzt“'”. Die Geschichte als Totalität und Kontinuität existiert im Strukturalismus nicht. Foucaults Episteme etwa, also die Konfigurationen des Wissens, werden bei ihm zwar historisch situiert, indem er sie Epochen zuordnet. Sein Vorgehen selbst ist aber ahistorisch, da nicht erklärt wird, wie die verschiedenen Episteme ineinander übergehen und das Aufkommen neuer Episteme nicht historisch abgeleitet wird. Vielmehr entspricht Foucaults Vorgehen einer räumlichen Konzeption, einer gleichzeitigen Betrachtung der Landschaft der Episteme. Die diskursive Ebene wird auf diese Weise über den historischen Referenten gestellt, dessen Existenz damit überhaupt zweifelhaft wird. Damit verkommt die Geschichte bei Foucault zu einer bedeutungslosen, enthumanisierten, kontingenten Erscheinung. Levi-Strauss bestreitet das Vorhandensein historischer Tatsachen überhaupt: Jede Episode einer Revolution oder eines Krieges löst sich in eine Vielzahl psychischer und individueller Bewegungen auf; jede dieser Bewegungen bringt unbewufßßte Entwicklungen zum Ausdruck, und diese wiederum lösen sich in Erscheinungen der Gehirn-, Hormonoder Nerventätigkeit auf, die selbst wieder physischer oder chemischer Natur sind ... Infolgedessen ist die historische Tatsache nicht mehr ‚gegeben‘ als die anderen; der Historiker oder der Agent des historischen Werdens konstituiert sie durch Abstraktion und gleichsam unter der Drohung eines unendlichen Regresses.'‘ In seiner eigenen Konzeption findet gesellschaftlicher Wandel lediglich innerhalb des festgefügten Gegebenen statt. Geschichte wird damit zu einer ewigen Wiederholung!”. Fortschritt, gar zum Besseren, wird damit undenkbar, und so ist es doch eigentlich er selbst, der den Regress proklamiert: Denn da wir wissen, daß der Mensch sich seit Jahrtausenden immer nur wiederholt hat, werden wir Zugang finden zu jenem Adel des Denkens, der jenseits aller Wiederholungen darin besteht, die unbeschreibliche Größe der Anfänge zum alleinigen Ausgangspunkt unserer Überlegungen zu machen." Dazu passt auch die seltsame, abgewandte Haltung gegenüber dem politischen Geschehen, die Abkehr von jeglicher Aktualität, die bei Lévi-Strauss auszumachen ist. Er, der als Anthropologe und Ethnologe mit hunderttausenden von Jahren rechnet, schweigt, als Hitler an die Macht kommt”. Die Abschaffung des Menschen Hätte Sartres Philosophie dazu geführt, dass man zwanghaft allem einen Sinn unterschieben miisse, so sei durch Lévi-Strauss und Lacan gezeigt worden, dass Sinn ,,vermutlich nichts als eine Art Oberflächenwirkung, eine Spiegelung, ein Schaum“ sei, so Michel Foucault”. Hingegen sei „das, was uns im Tiefsten durchdringt, was vor uns da ist, was uns in der Zeit und im Raum hält, eben das System“. Dieses System sei folglich dem Menschen vorgeordnet und determiniere ihn, das Subjekt denke innerhalb eines „anonymen und zwingenden Gedankensystems, nämlich dem einer Epoche und einer Sprache“. Auf die Frage, wer denn dieses System produziert, antwortet Foucault: Was ist dieses anonyme System ohne Subjekt, was ist es, das denkt? Das „Ich“ ist zerstört (denken Sie nur an die moderne Literatur) — nun geht es um die Entdeckung des „es gibt“: Es gibt ein „man“. In gewisser Weise kehren wir damit zum Standpunkt des 17. Jahrhundert zurück, mit folgendem Unterschied: nicht den Menschen an die Stelle Gottes zu setzen, sondern ein anonymes Denken, Erkenntnis ohne Subjekt, Theoretisches ohne Identität ...”' Wenn auch Foucault die Abschaffung des Menschen am konsequentesten vorantreibt, so ist diese gleichwohl bereits bei LeviStrauss angelegt: „Überall dort, wo sich in der Vergangenheit Wissenschaft herausgebildet hat, haben die Leute gesagt: Was Sie mit Ihrer Wissenschaft vorschlagen, stellt die Existenz Gottes in Frage. Heute sagt man uns: Das stellt die Existenz des Menschen in Frage.“”” War es also einst die Gottesgläubigkeit, die man im Namen des wissenschaftlichen Fortschritts zu überwinden hatte, so legt Levi-Strauss nah, dass auch der „Glaube an den Menschen“ ein solches Hindernis sei, das es zu überwinden gelte. Auf eine Kritik Jean Duvignauds aus dem Jahr 1958, die nach der Bedeutung der Freiheit des Menschen und der kollektiven Dynamik im strukturalistischen Konzept fragt, antwortet Levi-Strauss: „Die Frage ist nicht stichhaltig. Das Problem der Freiheit hat auf der Beobachtungsebene, auf die ich mich begebe, nicht mehr Sinn, als sie es für denjenigen hat, der den Menschen auf der Ebene der organischen Chemie studiert.“* Bloß dass Levi-Strauss sich eben nicht mit organischer Chemie, sondern mit menschlichen Gesellschaften befasst. Foucault konstatiert, die Arbeiten von Lévi-Strauss und anderen Strukturalisten liefen darauf hinaus, nicht nur das traditionelle Bild vom Menschen aufzugeben, sondern „sogar die Idee vom Menschen in der Forschung und im Denken überflüssig zu machen“. Dies ist keineswegs als Kritik zu verstehen, schließlich betrachtet Foucault den Humanismus als das „am meisten belastete Erbe, das uns aus dem 19. Jahrhundert zufällt“, weshalb es an der Zeit sei, sich dessen zu entledigen. Belastet deshalb, weil sich der Humanismus mit Problemen befasse, die es nicht verdienten, Gegenstand einer theoretischen Reflexion zu sein, wie „die Beziehungen des Menschen zur Welt, das Problem der Realität, das Problem des künstlerischen Schaffens, des Glücks November 2012 9