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Ausplünderung geschuldet bleibt“??. Gleichzeitig sei Individualität aber auch mehr als das, wie ein Zitat Adornos zeige: Daß das Individuum, wie der geschichtliche Verlauf und die psychologische Genese es lehren, ein Entsprungenes ist; daß das Individuum nicht jene Invarianz für sich behaupten kann, deren Schein es in Epochen einer individualistischen Gesellschaft annahm, mag das historische Verdikt über das Individuum begründen. Aber dies Urteil ist kein absolutes. Das Entsprungene kann, nach Nietzsches Einsicht, gegenüber seinem Ursprung das Höhere sein. Kritik am Individuum meint nicht dessen Abschaffung.” Genau dies geschieht aber im Strukturalismus, dem damit einmal mehr die Unfähigkeit zu dialektischem Denken konstatiert werden muss. Um nur ein Beispiel zu nennen: Anstatt eine Kritik an den Ausschlussverfahren der Gesellschaft, die auf Verwertbarkeit basieren, zu formulieren; anstatt gleichzeitig anzuerkennen, dass es Menschen gibt, die aufgrund einer psychischen Erkrankung einem massiven Leidensdruck ausgesetzt sind, wird der Irre zum Revoluzzer stilisiert, da er sich dem Zwang der Vernunft entziehe und hingegen „die endgültige Wahrheit des Menschen“ enthülle‘'. Die Misere wird dadurch geadelt, der Leidtragende verspottet. Am Ende der Revolution Bemerkenswert ist, dass Amery Frankreich einen Anteil an der Rehabilitierung Deutschlands zuspricht“?. Dabei sieht er gerade im Strukturalismus Ausdruck und Beschleuniger dieser Rehabilitierungswelle, da hier die Möglichkeit eines moralischen Urteils verneint wird. Eine vermeintlich objektive Betrachtung der Geschichte, die kein moralisch wertendes Element enthält, würde allerdings, da sie „dem Übel sich nicht widersetzt“, „allein durch ihre Indifferenz schon zu eben dieses Übels Fürsprecher“ werden“. In diesem Sinne sieht Améry im Strukturalismus einen Verrat der Intellektuellen: Das, was zu seiner Zeit Julien Benda ,La trahision des clercs‘ genannt hat, vollzieht sich in der allgemeinen Rehabilitierung der Barbarei, die man als solche kaum noch zu bezeichnen wagt, so groß ist die Angst, man könne von einer sich längst nicht mehr moralisch belastet fühlenden Rechten und einer jeder Tagesmode sich inbrünstig an den Hals werfenden Linken als ‚Veteran‘ abgetan werden.“ Nach einer Frankreichreise während des Pariser Mai 1968 resümiert Amery: „Frankreich, das ich liebte, noch che ich es betreten hatte, ein Knabe, der Schillers Jungfrau von Orleans las und sich an dem Namen Dunois berauschte, Frankreich ist mir verleidet.“” Birte Hewera ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut fiir Publizistikund Kommunikationswissenschaft an der FU Berlin; Publikationen (u.a.): Amok und School Shootings. Perspektiven der Gewaltforschung. In: Peter Imbusch (Hg.): Jugendliche als Täter und Opfer von Gewalt (2010); Auschwitz überleben — Macht und Ohnmacht bei Primo Levi, Elias Canetti und Jean Amery. In: Falko Schmieder (Hg.): Überleben. Historische und aktuelle Konstellationen (2011); „Das System ist alles. Der Mensch ist nichts. Die Wirklichkeit ist — wenig“. Jean Amery und der Strukturalismus. In: Alex Gruber, Philipp Lenhard (Hg.): Gegenaufklärung. Der postmoderne Beitrag zur Barbarisierung der Gesellschaft (2011). Anmerkungen 1 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, 462. 2 Jean Amery: Verfemt und verbannt. Vor dreißig Jahren - Erinnerungen an die Emigration. In: Örtlichkeiten. Werke. Hg. v. Irene HeidelbergerLeonard. Bd. 2. Stuttgart: Klett-Cotta 2002, 793. 3 Jean Amery: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. Werke. Bd. 2. Stuttgart: Klett-Cotta 2002, 100. 4 J. Amery, wie Anm. 3, 111. 5 J. Améry: Unmeisterliche Wanderjahre. Werke. Bd. 2. Stuttgart: KlettCotta 2002, 249. 6 Vgl. Francois Dosse: Geschichte des Strukturalismus. Das Feld des Zeichens: 1945-1966 (Bd. 1). Hamburg: Junius 1998, 14. 7 Michel Foucault: Absage an Sartre. Interview von Madeleine Chapsal. In: Alternative. Zeitschrift für Literatur und Diskussion. Hg. v. Hildergard Brenner, 10 (1967) 54, 91. 8 Michel Foucault, zit. nach F. Dosse, wie Anm. 6, 508. 9 FE. Dosse, wie Anm. 6, 9. 10 Ebd., 504 11 Ebd., 505. 12 Vgl. ebd., 512f. 13 Vgl. Günther Schiwy: Der französische Strukturalismus. Mode — Methode — Ideologie. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1984, 37-39. 14 Vgl. Urs Stäheli: Poststrukturalistische Soziologien. Bielefeld: Transcript Verlag 2000, 17f. 15 E Dosse, wie Anm. 6, 509. 16 Claude Levi-Strauss: Das wilde Denken. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973, 296. 17 Vgl. Alfred Schmidt: Der strukturalistische Angriff auf die Geschichte. In: Ders.: Beiträge zur marxistischen Erkenntnistheorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972, 263. 18 Claude Levi-Strauss: Traurige Tropen. Indianer in Brasilien. Köln; Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1970, 364. 19 Vel. Jean Améry: Fremdling in dieser Zeit. Zu Werk und Gestalt des Strukturalisten Claude Lévi-Strauss. Werke. Bd. 6. Stuttgart: Klett-Cotta 2004, 112. 20 M. Foucault, wie Anm. 7, 91. 21 Ebd., 92. 22 Claude Lévi-Strauss: Wie funktioniert der menschliche Geist? Interview von Raimond Bellour. In: Alternative 10 (1967) 54, 99. 23 Claude Lévi-Strauss, zit. nach F. Dosse, wie Anm. 6, 267. 24 M. Foucault, wie Anm. 7, 93. 25 Vel. M. Foucault, wie Anm. 1, 462. 26 Manfred Frank: Was ist Neostrukturalismus? Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, 17. 27 Vel. Jean Améry: Wider den Strukturalismus. Das Beispiel des Michel Foucault. Werke. Bd. 6. Stuttgart: Klett-Cotta 2004, 97. 28 Urs Jaeggi: Ordnung und Chaos. Der Strukturalismus als Methode und Mode. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1968, 34. 29 A. Schmidt, wie Anm. 17, 264. 30 Ebd., 231. 31 J. Améry, wie Anm. 5, 335. 32 Ebd., 236. 33 Ebd., 327. 34 Jean Amery: Der abgeschaffte Mensch. Blick in die Welt des Strukturalismus. In: sans phrase. Zeitschrift für Ideologiekritik 1 (2012) 1, 77£. 35 J. Améry, wie Anm. 5, 329. 36 Jean Améry: Fremdling in dieser Zeit. Stuttgart 2004, 132. 37 J. Améry: wie Anm. 34, 78. 38 Vel. A. Schmidt, wie Anm. 17, 211. 39 Gerhard Scheit: Quälbarer Leib. Kritik der Gesellschaft nach Adorno. Freiburg: ga ira 2011, 27. 40 Theodor W. Adorno, zit. nach G. Scheit, wie Anm. 39, 27f. 41 Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973, 545. 42 vgl. Jean Amery: Die Zeit der Rehabilitierung. Das Dritte Reich und die geschichtliche Objektivität. Werke. Bd. 7. Stuttgart: Klett Cotta 2005, 93f. 43 Ebd., 92f. 44 Ebd., 100. 45 Jean Amery: Reise ans Ende der Revolution. Notizen von einer Frankreichfahrt. Werke. Bd. 7. Stuttgart: Klett-Cotta 2005, 301. November 2012 11