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Überlegungen zwanzig Jahre nach seiner Befreiung aus dem Lager anstellt. Er ist sich dessen gewiss, dass er damals bereits, in diesem Augenblick der Gesetzeslektüre, „die Todesdrohung“ vernommen habe, hatte er nicht schon hunderte Mal davor die an den Erwachensruf Deutschlands geknüpfte Schicksalsbeschwörung vernommen, dass der Jude zugrundegehen möge: „Juda verrecke!. „Jude sein, das hieß für mich von diesem Anfang an, ein Toter auf Urlaub sein, ein zu Ermordender, der nur durch Zufall noch nicht dort war, wohin er rechtens gehörte“. Das heißt aber: Amery erfasst die Gesellschaft wesentlich in der Todesdrohung. Darin liegt die Quintessenz des Gesellschaftlichen für ihn, der sich plötzlich als Jude bezeichnet sieht; das „Kontinuum, das ihn von den Nürnberger Gesetzen, über Prügel und Folter, nach Auschwitz geführt hat“, wie Birte Hewera schreibt: Das „Gemeinsame ist der Antisemitismus, der die Forderung nach Vernichtung in sich enthält“.”° Unter dem Druck einer solchen Erkenntnis, muss er sich selbst gegen Sartres Philosophie des „Fürsichseins“ wenden. Ihr gemäß hätte er sich auch angesichts der Nürnberger Gesetze denken können: „Was immer man von mir auch sage, es ist nicht wahr. Wahr bin ich nur, als der ich mich selber im Innenraum sehe und verstehe; ich bin, der ich für mich und in mir bin, nichts anderes.“ So aber zu reagieren, erscheint Amery nun insofern gerade als unauthentisch, als er damit das über ihn verhängte Urteil nicht als solches wahrzunehmen bereit wäre, ihm sich also gerade nicht stellen könnte. Und doch denkt Amery auch noch hier mit Sartre, wenn er gegen ihn argumentiert und die Reflexions sur la question juive samt ihrer Bestimmung des „authentischen Juden“ gegen das philosophische Hauptwerk kehrt: Als jemand, der die Todesdrohung — die an sich aller Herrschaft zu Grunde liegt - anders als andere erfährt, nämlich als Jude, auf den also die „Logik der Vernichtung“ zielt - die den Nationalsozialismus als etwas über alle andere Herrschaft Hinausgehendes bestimmt -, ist er nicht bereit, die Verdrängung der Gewalt in Sartres „Fürsichsein“ mitzumachen und kann sich gerade darin aber auf Sartres eigene Reflexions von 1944 stützen. Diese Schrift hatte nämlich die gedanklichen Grenzen von L’Etre et le Neant an diesem entscheidenden Punkt überschritten: Sie weiß den Antisemiten dadurch bestimmt, dass er den „Tod des Juden“ will”, und die Situation der Juden dadurch, nicht frei zu sein, Jude zu sein: Das „Fürsichsein“ kann angesichts des Antisemitismus nicht wählen, kein Jude zu sein.”? Aber es kann nach den Röflexions doch wählen, „authentisch“ oder „nicht authentisch“ Jude zu sein, wobei die Wahl der Authentizität hier einer Entscheidung zum „Märtyrer“ gleichkommt: „in und wegen der ihm entgegengebrachten Verachtung zu sich selber“ zu stehen.” Hier liegt, wie Miriam Mettler erkennt, der für Sartre charakteristische „Hang zur Heroik“, der „Primat der Aktion“, worin ein letzter Rest von falschem Idealismus gesehen werden kann: die „Möglichkeit der absoluten Ohnmacht des Geistes angesichts der physischen Zurichtung“ will Sartre nicht denken: „Authentisch ist der Kämpfer, nicht der Flüchtling.“” Die Problematik des Satzes, dass wir auch unter der Folter nicht unsere Freiheit verlieren, bleibt auch in den Reflexions sur la question Juive bestehen, aber sie wird nun unmittelbar als Antinomie der Gesellschaft kenntlich. Die Freiheit zur Wahl, letztlich die Freiheit zur Revolte, ist allerdings per se voraussetzungslos, sie kann gar nicht anders gedacht werden — nur dass dabei vom Leiblichen des einzelnen, der die Wahl hat, in keinem Moment abgesehen werden darf. Dass es eine Wahl gibt, durch die dieser Leib vernichtet wird, resultiert eben daraus, aus dieser Gleichzeitigkeit von Bewusstsein und Leib; und ebenfalls, dass eine Gesellschaft, die Individuen zwingt, sich dieser Wahl zu stellen, der Inbegriff der „schlechten Einrichtung der Welt“ ist: Conditio sine qua non von Herrschaftsverhältnissen. Da Sartre nun im Unterschied zu L’Etre et le Neant diese „Einrichtung“ als Gegenstand eines Urteils reflektiert, das Anspruch auf Allgemeinheit erhebt, als gäbe es wieder ein Transzendentalsubjekt, vermag er auch die Lage der Juden soweit zu begreifen, als er sagt, dass es uns — die Nichtjuden — „nichts angeht“, ob ein Jude angesichts des Antisemitismus sich so oder anders entscheidet. Und doch vermittelt Sartre zugleich: es geht uns etwas an, sofern es zumindest unsere eigene Wahl betrifft. Wozu würde er sonst zwischen Authentizität und Inauthentizität im Judentum überhaupt unterscheiden, wenn es nicht diese Möglichkeit eines gemeinsamen „Engagements“ von Juden und Nichtjuden inmitten der schlecht eingerichteten Welt gäbe — eines Engagements, das eben in der gemeinsamen Aktion für eine besser eingerichtete nicht aufgeht, welcher die Klärung der Antisemitenfrage zu überlassen, vielmehr eine ebenso faule wie für die Juden gefährliche Lösung darstellte. Schließlich steht dahinter doch die Selbstreflexion des Nichtjuden, der in der Gesellschaft dem kategorischen Imperativ nach Auschwitz folgend sich ständig überlegen muss, mit wem unter all denen, die vom Antisemitismus unmittelbar betroffen sind, dieser Antisemitismus sich am effektivsten bekämpfen lässt. Die Entscheidungen, die auf solchen Überlegungen beruhen, können aber nichts an der Erkenntnis der Tatsache ändern, dass immer die Gesamtheit der Juden von der antisemitischen Drohung ins Visier genommen wird, und eben diese Erkenntnis hätte selber noch einzugehen in die konkreten Formen, die der Kampf gegen die Antisemiten annimmt. Die Enttäuschung über Sartres spätere Unfähigkeit, solche Entscheidungen im Hinblick auf Israel einigermaßen verantwortungsvoll zu treffen, ist angesichts der von ihm in den Reflexions erreichten Durchdringung des Problems schwer zu ertragen. Darüber tröstet auch nicht das Wissen, dass er zwar die Notwendigkeit eines Urteils über die „schlechte Einrichtung der Welt“ begriff, aber zur Formulierung des Urteils die falschen Begriffe besaß, nämlich die des Marxismus und nicht die der Marxschen Kritik. Die Regression seiner Urteilskraft nach den Reflexions von 1944, die sich dann im Engagement für parteikommunistische Praxis und nationale Befreiungsbewegungen niederschlug, verweist noch darauf, dass er selbst in den Réflexions die Möglichkeit der absoluten Ohnmacht des Geistes angesichts der physischen Zurichtung nicht denken wollte. Amery akzeptiert die von Sartre für die Juden formulierte Freiheit der Wahl, insofern er sie als die jedem Juden gegebene Möglichkeit begreift, die Vernichtungsdrohung zu erkennen. In dieser Erkenntnis liegt jedoch immer zugleich die Gefahr, der Drohung im Innersten nicht standhalten zu können, sie zu verinnerlichen, also das antisemitische Bild des Juden zu übernehmen - bis hin zum Suizid. Der Gefahr zu wehren, bedarf es womöglich eines Hangs zur Heroik, das ist jedenfalls bei Amery spürbar: „Ich nahm das Welturteil an, mit dem Entschluss, es in der Revolte zu überwinden.“?' Das machte ihn auch empfänglich für die Gewaltrhetorik eines Frantz Fanon, worin er Sartre folgte. Allerdings relativiert Am£ry im nächsten Satz schon das Pathos, als kritisierte er die Sprache Sartres, dort wo sie dem falschen Engagement Vorschub leistet (so wie er später auch die positive Bezugnahme auf Fanon revidierte): „Revolte, freilich, das ist auch so ein Donnerwort.“ Das kann Ame£ry aber nur schreiben, weil er zuvor die Situation November 2012 15