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im Lager und unter der Folter beschrieben hat. Es sind darum solche Abschattierungen in der Verwendung der ‚Donnerworte‘, worin sich sein ganzes essayistisches Vermögen wie auch der innere Zusammenhang seiner Essays zeigt. Kein noch so groß angelegter philosophischer Entwurf vermag dem gerecht zu werden, was der von den Nazis Gefolterte und Deportierte erfahren hat: Nur eine kleine Aberration vom Begriff etwa der Revolte ist nötig, damit die Ohnmacht durch das, was dem Leib angetan werden kann, dem Gedächtnis nicht verloren geht. „Mein Körper, ausgemergelt und schmutzverkrustet, war meine Misere. Mein Körper, wenn er sich zum Hieb anspannte, war meine physisch-metaphysische Wiirde.“** Mit diesen Worten berichtet Améry im letzten Essay, der ebenso auf die Bedrohung Israels bereits zu sprechen kommt, über eine spezielle Situation im Lager Auschwitz-Monowitz — als er, nachdem er von einem polnischen Häftlingsvorarbeiter geschlagen worden war, zurückschlug. Er kann es in diesen Worten nur tun, weil er in den Essays über Auschwitz und die Tortur andere Situationen innerhalb der „Logik der Vernichtung“ herausgestellt hat, die eine solche Wiedererlangung der Würde in der Revolte mitnichten mehr zulassen. Was dann als heroische Tönung im Essay von Améry zuriickbleibt, lässt ebenso an die Notwendigkeiten denken, die den Israel Defense Forces auferlegt sind, wie an den Satz von Kafka: „Gerade die Vorsicht verlangt, wie leider so oft, das Risiko des Lebens“. Gerhard Scheit, Dr. phil., lebt als freier Autor in Wien; Mitherausgeber der neuen Jean Amery Werkausgabe und der eben gegründeten Zeitschrift sans phrase. Bücher u.a.: Verborgener Staat, lebendiges Geld. Zur Dramaturgie des Antisemitismus (1999); Suicide Attack. Zur Kritik der politischen Gewalt (2004); Der Wahn vom Weltsouverän. Zur Kritik des Völkerrechts (2009); Quälbarer Leib. Kritik der Gesellschaft nach Adorno (2011). Anmerkungen 1 Jean Améry: Unmeisterliche Wanderjahre. Werke. Hg. von Irene Heidelberger-Leonard. Bd. 2. Stuttgart: Klett-Cotta 2002, 274. 2 Die Bedeutung von Irene Heidelberger-Leonards Buch Jean Améry — Revolte in der Resignation (Stuttgart: Klett-Cotta 2004) liegt nicht zuletzt darin, diesen über die Biographie hinausreichenden, gedanklichen Zusammenhang kontinuierlich herzustellen. Was das Verhältnis zu Sartre betrifft: vgl. ebd. 158-166. 3 Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Hg. von Vincent v. Wroblewsky. Übersetzt v. Traugott König. Reinbek: Rowohlt 1994, 928. 4 Franz Neumann: Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1944. Hg. v. Gert Schäfer. Frankfurt am Main 1998. 5 Vgl. Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München; Zürich 1986, 412, 564. 6 Jean-Paul Sartre: Überlegungen zur Judenfrage. Hg. von Vincent v. Wroblewsky. Reinbek: Rowohlt 1994, 89. 7 Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. Gesammelte Schriften. Hrsg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Bd. 1.2. Frankfurt am Main 1974, S. 697. 8 Vgl. Theodor W. Adorno: Beethoven. Philosophie der Musik. Fragmente und Texte. Hrsg. v. Rolf Tiedemann. Nachgelassene Schriften. Abt. 1: Fragment gebliebene Schriften Bd. 1. Frankfurt am Main 1993, S. 62. 9 Jean Amery: Jenseits von Schuld und Sühne. In: Ders.: Werke. Hg. von Irene Heidelberger-Leonard. Bd. 2. Stuttgart: Klett-Cotta 2002,83. 10 J.-P. Sartre, wie Anm. 3, 903. 11 „Worin liegt die Kraft, worin die Schwäche? Ich weiß es nicht. Man weiß es nicht. Noch keiner hat übersichtliche Grenzen ziehen können zwischen der sogenannten ‚moralischen‘ und der gleichfalls unter Anführungszeichen zu setzenden ‚körperlichen‘ Widerstandskraft gegen den physischen Schmerz.“ Obwohl Amery gerade diese Frage nicht beantworten kann und will, hält er andererseits fest „Wir können uns dem Begriff der Individualität auch 16 _ ZWISCHENWELT in der physiologischen Betrachtung des Schmerzes nicht entziehen. Die Geschichte zeigt uns, daß wir Menschen von heute schmerzempfindlicher sind, als unsere Voreltern es waren ...“ J. Amery, wie Anm. 7, 81. 12 Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Hg. von Vincent v. Wroblewsky. Übersetzt v. Traugott König. Reinbek: Rowohlt 1994, 589. 13 Vgl. hierzu die Darstellung in meinem Buch Quälbarer Leib (Freiburg 2011). 14 Jean-Paul Sartre: Was ist Literatur? Übersetzt von Traugott König. Reinbek: Rowohlt 1986, 169. 15 J.-P. Sartre, wie Anm. 5, 169. 16 „Ich habe auch nicht vergessen, daß es Momente gab, da ich der folternden Souveränität, die sie über mich ausübten, eine Art von schmählicher Verehrung entgegenbrachte. Denn ist nicht, wer einen Menschen so ganz zum Körper und zur Beute des Todes machen darf, ein Gott oder zumindest Halbgott?“ J. Amery, wie Anm. 7,78. 17 Theodor W. Adorno: Metaphysik. Begriff und Probleme (1965). Hg. v. Rolf Tiedemann. Nachgelassene Schriften Bd. 14. Frankfurt am Main 1998, 166. 18 J. Amery, wie Anm. 7, 122. 19 Ebd., 22. 20 Ebd., 172. 21 Ebd., 167. 22 Paul Celan: „Mikrolithen sinds, Steinchen“. Die Prosa aus dem Nachlaß. Hg. von Bertrand Badiou u. Barbara Wiedemann. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005, 121. 23 J. Améry, wie Anm. 7, 165. 24 Es ist im Ubrigen symptomatisch fiir die Rezeption von Jenseits von Schuld und Sühne, dass der innere Zusammenhang der Essays, den Améry im Vorwort selbst hervorhebt, aufgelést und der Tortur-Text isoliert betrachtet wird, um die Anwesenheit des Zusammenhangs in ihm selbst zu leugnen — entweder um Améry zum Theoretiker der Tortur zu machen oder um seine Bedeutung für die Erkenntnis dessen, was Vernichtung um der Vernichtung willen ist, zu schmälern. So hat jüngst Dan Diner behauptet: „Obwohl Amery Auschwitz erfahren hatte, war er aus Gründen einer damals obwaltenden diskursiven Hegemonie gehalten, die Erfahrung der Folter, die Leibeszeugenschaft, wie er es nannte, über da andere, über die Wahrnehmung der Todesfabriken zu stellen. Dass die Folter Amery als einem im Kampf gegen die Nazis aufrecht stehenden politischen Gegner Anerkennung verhieß, mag damals dazu geführt haben, mittels der Reflexion des Geschehens in Breendonk Auschwitz zu überschreiben. Doch Nachsicht ist angebracht: Vor dem Hintergrund des in Auschwitz exekutierten kollektiven Todes nimmt die Folter sich in der Tat aus wie ein die Individualität bestätigendes Ehrenmal.“ (Dan Diner: Verschobene Erinnerung. Jean Amerys Die Tortur wiedergelesen. In: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, 21 (2012) 2, 27) Vgl. hierzu die Kritik an Diner von Birte Hewera: Wider die Unmoral des Zeitvergehens. In: sans phrase 1 (2012) 1, 230f. Adorno war hingegen noch imstande, in Amerys Darstellung der „Leibeszeugenschaft“ der Folter, so fremd ihm prinzipiell die existentialphilosophische „Armatur“ dieses Autors erscheinen musste, auch die Erfahrung der Todesfabriken wahrzunehmen, obwohl er die anderen Texte von Jenseits von Schuld und Sühne noch gar nicht kennen konnte. 25 J. Amery, wie Anm. 7, 153f. 26 B. Hewera, wie Anm. 25. 27 Als „destructeur par fonction“ und „sadique au coeur“ (Reflexions sur la question juive. Paris: Gallimard 1954, 59) ist er auch zur Ausübung der Folter bestens prädestiniert. 28 J.-P. Sartre, wie Anm. 6, 48. 29 Ebd., 57. 30 Miriam Mettler: Überlegungen zur (Un-)Möglichkeit jüdischer Authentizität: Jean Améry und Jean-Paul Sartre. In diesem Heft. 31 J. Améry, wie Anm. 7, 161. 32 Ebd., 162.