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Jürgen Doll 1. Améry-Leser verbinden den Namen André Gorz mit dessen Essay Le Vieillissement, von dem Améry im Vorwort zu seinem Essay tiber das Altern sagt, er habe von ihm zu diesem Thema viel gelernt.' Doch will ich hier weniger auf diese Beziehung zwischen den beiden Autoren eingehen als auf auffallende Gemeinsamkeiten wie auch Unterschiede in ihrem Werdegang und Denken, wobei ich mich besonders auf ihre autobiographischen Schriften stützen will. Dabei sei vorausgeschickt, dass Am£ry, wie wir aus den Unmeisterlichen Wanderjahren wissen, Gorz 1958 erschienenen autobiographischen Roman-Essay Le traitre (Der Verräter) kannte’, und als regelmäßiger Leser der Temps modernes und des Nouvel Observateur natürlich auch dessen publizistische Tätigkeit. Kurz zu André Gorz. André Gorz wurde 1923 in Wien als Sohn des jüdischen Kleinunternehmers Jakob Hirsch und seiner katholischen Frau Marta Starka geboren. Der Vater änderte nach seiner Konversion zum Katholizismus im Jahre 1930 den Familiennamen auf Horst.” Damit er seiner Einberufung zuvorkommt, schickt die Mutter ihren Sohn Gerhard Horst 1939 in ein deutschschweizerisches katholisches Internat, wo er nach zwei Jahren maturierte. 1941 begann er an der ETH Lausanne ein Chemiestudium, das er 1945 mit dem Ingenieursdiplom abschloss. 1947 lernte er seine englische Frau Dorine kennen, der er von einem ihrer Freunde mit den Worten vorgestellt wurde: “He’s an Austrian Jew. Totally devoid of interest”.* Dorine hat er sein letztes Buch, den berührenden Briefan D. gewidmet. 1941 entdeckte er durch Zufall Sartres Z’I/maginaire, kaufte dann La Nausée und Le Mur, zwei Bücher, die ihn, wie auch Jean Améry, in ihren Bann zogen’, und begann mit dem Studium von Z’Eire et le Neant. Als Sartre Anfang Juni 1946 nach Lausanne kam, wollten ihm die Freunde von Gorz den Typen vorstellen, der alles von ihm gelesen hatte.° Derart ausgerüstet, begann dieser 1944 mit der Abfassung einer existentialistischen Abhandlung über die Moral, an der er zehn Jahre gearbeitet hat, die aber vom allmächtigen Gott Sartre abgelehnt wurde. Als Grund gibt Simone de Beauvoir an, dem Essay habe es an Originalität gemangelt, er habe sich zu eng an L’Eire et le Neant angelehnt.’ Er erschien schließlich 1977, zwanzig Jahre nach seiner Fertigstellung, unter dem Titel Fondements pour une morale’. Davon seien nach seinem Erscheinen, so Gorz, vier Exemplare verkauft worden. 1949 übersiedelten Gorz und Dorine nach Paris, wo er nach einem Jahr Brotarbeiten 1950 unter dem Pseudonym Michel Bosquet bei Paris Presse seine erfolgreiche journalistische Karriere begann. 1954 erhielt der staatenlose Journalist die französische Staatsbürgerschaft. 1955 wird er Wirtschaftsredakteur beim Nachrichtenmagazin Express, 1964 Mitbegründer und stellvertretender Chefredakteur des Nouvel Observateur? Gleichzeitig gehörte er zum engeren Kreis um Sartre und Beauvoir, zur famille’. Anders als die Fondements wurde der RomanEssay Le traitre vom Meister approbiert, ja, mit einem seiner glanzendsten Vorworte versehen. Le traitre ist ein Meisterstück der selbstanalytischen Autobiographie, ein gelungener ,, Versuch einer Selbstbefragung“, wie Jean Améry seine autobiographischen Werke bezeichnet.'! Das Buch war erfolgreich und Gorz wurde 1961, zu einer Zeit, als der Existentialismus in der französischen intellektuellen Öffentlichkeit bereits vom Strukturalismus abgelöst wird, Mitglied der Redaktion der Temps modernes. Ende der sechziger Jahre, als er bereits ein international anerkannter politischer Theoretiker war, übernahm er die Leitung des politischen Teils der Zeitschrift. Sein Aufsatz Le Vieillissement, der an der Jahreswende 1961/1962 in den Temps modernes erschien, war Gorv letzte Auseinandersetzung mit einer „existentiellen“ Frage. Allerdings behielten auch seine späteren politökonomischen Arbeiten durchaus einen auf den Existentialismus zurückgehenden philosophischen Ansatz, in dem Freiheit und Autonomie des Menschen im Mittelpunkt stehen. In den sechziger Jahren bestimmte Gorz in den Temps modernes die sog. „italienische“, d. h. an der KPI ausgerichtete Linie der Zeitschrift!” und publizierte marxistisch orientierte Bücher zu Problemen des Sozialismus, die auf die internationale Studentenund Arbeiterbewegung einen starken Einfluss ausübten: 1964 Zur Strategie der Arbeiterbewegung im Neokapitalismus, 1967 Der schwierige Sozialismus, 1969 Reform und Revolution. Améry befand diesbeziiglich, Gorz habe in der allgemeinen ideologischen Verwirrung Obdach gefunden ,,in der strengen Niichternheit der Nationalékonomie“!?. Nach Mai ,68 lenkten Sartre und Gorz die Temps modernes auf eine immer starker linksradikale Linie. Gorz Aufsatz „Zerstört die Universitäten“ in der Aprilnummer 1970, dessen Titel radikaler ist als sein Inhalt, veranlasste den endgültigen Austritt aus dem Redaktionskomitee von Pontalis und Pingaud, „der rechten Fraktion der Temps modernes“, wie Sartre trocken anmerkte. Dennoch folgte Gorz, wie Amery"‘, Sartre nicht mehr auf seinem populistisch-maoistischen Weg, sondern näherte sich den syndikalistischen Gruppen an (Cahiers de mai, Gauche ouvriére et paysanne). 1973, anlasslich einer der italienischen Gruppierung Lotta continua gewidmeten Nummer, kam es zur Kraftprobe mit den von Sartre unterstiitzten Maoisten, die Gorz verlor. Er trat aus dem Redaktionskomitee aus, entfernte sich immer mehr vom Kreis um Sartre und löste sich nach dessen Tod ganz davon. So sehr sich dessen Positionen im Laufe der Jahre zu wandeln scheinen, so klar zeichnen sich wesentliche Konstanten ab. Zum einen geht es in seinen Schriften wie in Sartres Kritik der dialektischen Vernunft, um den Versuch, Existentialismus und Marxismus zu verbinden, d. h. um die Einbindung des vereinzelten Individuums (des seriellen Arbeiters in Sartres Terminologie) in ein kollektives Projekt (die Gruppe), was sich in seinen frühen Arbeiten als Bekenntnis zur Arbeiterselbstverwaltung niederschlug. Zweitens geht es ihm um die potentielle Aufhebung der entfremdeten Arbeit, was ihn schließlich zur Forderung nach Abschaffung der Lohnarbeit und einem bedingungslosen Grundeinkommen führte. Drittens geht es ihm, unmittelbar politisch, um die Möglichkeit einer reformistischen Strategie, die zu revolutionären Veränderungen führen kann. Dies implizierte eine Neubestimmung der marxistischen Klassenanalyse im schr umstrittenen Essay Abschied vom Proletariat aus dem Jahre 1980. Dieses Konzept eines „revolutionären Reformismus“ entspricht jaauch durchaus Amérys Vorstellungen." Schließlich versuchte Gorz seit den siebziger November 2012 17