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Jahren eine Verbindung zwischen unorthodoxem Marxismus und Ökologie her zu stellen und wurde zu einem der wesentlichen Vordenker und Mitstreiter der politischen Ökologie. Am 22. September 2007 nahm sich André Gorz gemeinsam mit seiner unheilbar erkrankten 83-jährigen Frau das Leben. 2. Auf den ersten Blick frappieren trotz des beträchtlichen Altersunterschieds zwischen Gorz und Améry — und abgesehen von dessen lebensbestimmender KZ-Erfahrung — die lebensgeschichtlichen Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Autoren. Beide sind in kleinbürgerlichen Verhältnissen im Wien der Kriegs- bzw. Zwischenkriegszeit geboren. Beide haben einen jüdischen Vater und eine katholische Mutter. Beide wachsen ohne religiöse Bindung auf. Beider Berufswunsch ist es, Schriftsteller zu werden. Beide erfahren nach dem Anschluss Österreichs an Nazideutschland das Exil im französischsprachigen Ausland.!° Für beide ist Frankreich das Wunschland, „das gelobte Land des Geistes und der Liebe“ ”, Französisch die einzig geistvolle Sprache und Paris das Zentrum der Welt. Beide sind von Sartre fasziniert und sehen im Fxistentialismus eine Möglichkeit, ihr durcheinander geratenes Leben neu zu entwerfen, neu anzufangen. Beide sahen im Existentialismus ein Erbe der Resistance. Beide bezeichnen sich als Intellektuelle, Amérty sich als skeptisch-humanistischen, Gorz sich als radikalkritischen, aber beide sind der Meinung, der Intellektuelle stehe per definitionem links. Beide jonglieren mit ihrem Namen und wählen französische Schriftstellerpseudonyme, Gorz sogar deren zwei, Andre Gorz für die theoretischen, Michel Bosquet für die journalistischen Arbeiten.'® Meines Wissens sind sie die zwei einzigen österreichischen Autoren mit französischem Pseudonym. Beide erleben ihren Durchbruch mit autobiographischen Essays, wobei meines Erachtens sowohl Jenseits von Schuld und Sühne (1966) wie Le traitre (1958) wohl ihre jeweiligen Meisterwerke sind. Beide enden, wenn auch unter unterschiedlichen Umständen, durch Freitod. Natürlich aber unterscheidet die beiden manches auf den zweiten Blick. Ich möchte im Folgenden sehr kurz auf das durch die Namensänderung schon offenkundig gewordene Identitätsproblem, auf die Exilsituation, auf ihr jeweiliges Verhältnis zu Sartre und zum Existenzialismus sowie auf ihren politischen Werdegang eingehen. Ein wesentlicher Bestandteil ihrer Identität ist das Judentum. Keiner der beiden wollte als Kind Jude sein, wobei sie beide erst von ihren Spielkameraden erfahren haben, dass sie es sind.'? Der kleine Hans Mayer in Lederhosen und weißen Wadenstrümpfen wollte deutsch aussehen”, der junge Gerhard Horst ging so weit, sich mit den Nazis zu identifizieren, weil sie die Gegner des verhassten jüdischen Vaters waren, den er schon immer loswerden wollte.”' Wie damals viele Jugendliche identifizierte er sich mit ihnen auch aus Protest gegen den erzkonservativen österreichischen Ständestaat, dessen Ideologie Gorz in Anlehnung an die Devise Vichy-Frankreichs prägnant mit „Travail, Famille, Patrie, Eglise“ umschreibt.” Der junge Gerhard Horst sah sich als halbe Portion: halb Jude, halb Arier, halb Mensch. Er fand es ganz normal, dass sein Judentum ihn zum Außenseiter machte und sah sogar noch seine Isolierung im Schweizer Internat als verdiente Folge seiner jüdischen Nicht-Existenz an. Nach dem Anschluss, als er zur völkischen Gemeinschaftsfeier nicht geladen war, erkannte er schließlich, wie auch Améry, dass die Nazis dabei waren, ihm sein Land zu rauben. Allerdings muss zu seiner Naziphase entschuldigend gesagt 18 _ ZWISCHENWELT werden, dass seine extrem ehrgeizige, antisemitische Mutter aus ihm einen virilen, aristokratischen Modellarier machen wollte, weil sie, wie Sartre im Vorwort zum Verräter schreibt, ihrem jüdischen Mann nicht verzeihen konnte, der einzige Mann gewesen zu sein, den sie hatte bekommen können.” Der absurde Anspruch der Mutter, er solle jemand ganz anderer sein als der, der er war, und die konstanten Erniedrigungen durch den mediokren Vater, der noch 1951 behauptete, ohne den Antisemitismus würde er sofort wieder Hitler wählen, vermittelten dem Kind den Eindruck, ein völliger Versager zu sein. Zwar konnte man sein Schielen mit Brillen, sein Lispeln mit einer Spange, sein Stottern durch Übungen heilen, aber er sprach danach so leise, dass er fürderhin der Nuschler genannt wurde. Wie sich Améry, um seinem Milieu zu entkommen, den oberösterreichischen Bauernbuben anbiederte, so Gorz sich den Wiener Vorstadtbuben, wie Améry zum Missfallen seines Großvaters den Ischler Dialekt, so praktizierte Gorz zur Entrüstung seiner Mutter das schlimmste Vorstadt-Wienerisch. Auch Gorz hatte also, wie Am£ry, einen weiten Weg zurückzulegen von seiner österreichischen Kindheit bis zum kritischen Intellektuellen. Wie Amery fand sich der gleichfalls aus kleinbürgerlichen Verhältnissen kommende Gorz hin- und hergerissen zwischen „dem Proletarier und dem Bürger, ... dem Juden und dem Arier, dem Provinzler und dem Städter“”‘. Amery stellte sich die Frage eines Identitätswechsels zum Juden, sah diesen Versuch jedoch als von vorneherein gescheitert an, da ihn nichts mit der jüdischen Religion und Kultur verbände. Er spielte auch mit dem Gedanken, ein französischer Schriftsteller zu werden, schreibt, er sei, als er die französische Sprache angetroffen habe, zum zweiten Mal ein Mensch geworden, kann aber schließlich auch diesen Traum von einer neuen Identität nicht realisieren.’ Gorz, dem die jüdische Religion und Kultur ebenso fremd waren wie Amery, beschäftigte sich als Autor nie mit der jüdischen Problematik, verwirklichte hingegen schon mit 17 Jahren den französischen Traum. Allerdings kam ihm im Gegensatz zu Amery zugute, dass er dank seines Kindermädchens Ninon genauso gut Französisch sprach wie Deutsch.” In der Konversion zum Franzosen, wie er seine existentielle Wahl nennt, glaubte er einen Ausweg zu finden aus „dem durch das Exil festgefahrenen österreichischdeutsch-jüdisch-christlichen Widerspruch“””. Er beschloss von einem Tag zum anderen, nur mehr französische Literatur zu lesen, und sah in Frankreich, wie Amery, das strahlend rationale Gegenbild zum faschistischen Deutschland. Anders als Amery realisierte er auch einen anderen Iraum, den beide träumten: er zog nach Paris.” Für beide war die identitäre Unsicherheit Anlass für Minderwertigkeitsgefühle, fehlendes Selbstvertrauen und selbstzerstörerische Strategien. „Ein Unternehmen der Autodemolition“ nennt Ame£ıry seinen Rückblick auf sein provinzielles Waldgängertum, von seinem Hang zur Selbstzerstörung spricht Gorz in seiner Autobiographie, in der er vielleicht noch schonungsloser mit sich selbst ins Gericht geht als Amery in den Unmeisterlichen Wanderjahren. Beide finden, mutatis mutandis, im schriftstellerischen Erfolg zu einer gewissen Selbstbestätigung, wie wir der Korrespondenz Amerys und Gorz Brief an D. entnehmen können.” Erst die literarische Anerkennung verschaffte ihm Selbstbewusstsein und einen Platz in der Welt.?° Dies gilt wohl auch für den erfolgreichen Essayisten Ame£ry, während die seinen belletristischen Arbeiten versagte Anerkennung, wie bekannt, den gegenteiligen Effekt hatte.