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Christoph Hesse Einen Künstler, Schriftsteller oder Philosophen mit den eingebildeten Augen eines anderen zu begutachten, ist eine geläufige Übung. Manchmal geht die eine oder andere sogar gut aus; sofern es nicht lediglich darum geht, einer ohnehin schon recht erfolgreichen Marke noch die besten Erfindungen eines Konkurrenten zuzuführen, wobei solche Fusionen eher dem vermeinten Geschmack der Kundschaft als sachlichen Erwägungen folgen. Marx mit Foucault, Lacan liest Lenin, Walter Benjamin trifft Carl Schmitt, dergleichen Begegnungen möchte ich Ihnen jedenfalls ersparen. Im glücklichsten Fall mag so eine Zusammenstellung dahin führen, daß ein Gedanke oder ein Motiv, seiner historischen Bedingtheit und des Kontexts seiner Entstehung für einen Augenblick enthoben, sich selbst aufs neue zu erklären beginnt. In einem auf zwanzig Minuten verabredeten Rendezvous würde so etwas schwerlich gelingen. Da trifft es sich gut, daß weder Jean Améry noch Claude Lanzmann eine elaborierte Theorie hinterlassen haben, die nun zum besseren Verständnis zerlegt und nach Austausch einiger Elemente wieder zusammengefügt werden müßte. Die hier vorgestellte Szene ist denkbar schlicht, etwa so wie das zufällige Zusammentreffen zweier Unbekannter an einer Straßenecke, die einander sogleich erkennen. Individuelle Erfahrungen wiegen dabei schwerer als philosophische Thesen. Immerhin einen philosophischen Text gibt es, der sie von ferne eng miteinander verbindet, wenngleich keiner von beiden ihn selbst geschrieben hat. Die Rede ist von Sartres Überlegungen zur Judenfrage, erschienen im Jahr 1946. Für Amery bedeutete dieser Text, nach der Befreiung aus den Lagern der Nazis, eine nachmalige Befreiung und eine Ermutigung, in der Welt, zu der er Vertrauen nicht mehr fassen konnte, sich überhaupt wieder zu Wort zu melden. Eine befreiende Wirkung, vermerkt Amérys Biographin Irene Heidelberger-Leonhard, habe der Text auch auf die jüdischen Intellektuellen im Umkreis Sartres ausgeübt.! „So auch auf Claude Lanzmann“, schließt Gerhard Scheit daran an, „den Amery in seinen Aufsätzen immer wieder zitiert. Der Regisseur Lanzmann wie der Essayist Améry sollten — jeder in seinem Medium — zu einer Form der Darstellung finden, die eine vorschnelle Identifikation mit den Opfern verweigert, um das Verbrechen selbst und die Schuld der Tater, Mitlaufer und Zuschauer umso bewußter zu machen.“ Auf die Zeugenschaft der Shoah und die auf Form der Darstellung, die Lanzmann parallel zu Amery findet, werde ich hier nicht näher eingehen; das soll das Thema eines kleinen Beitrags zur folgenden Tagung in Berlin sein.? Soweit ich es überblicke, kommt übrigens Ame£ry bei nur wenigen Gelegenheiten und niemals ausführlich auf Lanzmann zu sprechen.‘ Pourguoi Israel, dessen ersten Film aus dem Jahr 1973, hat er wahrscheinlich nie geschen. Lanzmann seinerseits, obgleich er seit seiner Jugend Deutsch lesen kann, hat Ame£ry anscheinend gar nicht zur Kenntnis genommen. Ob er nicht spätestens bei der Vorbereitung des Films Shoah auf dessen Schriften gestoßen sein mag, denn nach eigener Auskunft hat er zu diesem Zweck eine Menge Bücher lesen müssen’, konnte ich nicht herausfinden. Bedeutsamer als ein Ergebnis solcher Recherchen erscheint mir etwas anderes, und zwar das, was Ame£ry die „Solidarität angesichts der Bedrohung“‘ nennt. Nicht zufällig in genau diesem Zusammenhang wird Lanzmann an prominenter Stelle zitiert, als „der linksradikale französische Publizist“’, der am Vorabend des Sechstagekriegs kundtut, er sei äußerstenfalls bereit, den amerikanischen Präsidenten Johnson hochleben zu lassen. Daß Lanzmann sowohl wie Améry es mit dieser Solidarität überaus ernst nehmen, bedarf keiner weiteren Belege. Die schnell erlangte Gewißheit, daß hier zwei nichtjüdische Juden, wie Isaac Deutscher sie genannt hätte, sich angesichts der Bedrohung mit allen Juden in der Welt verbunden wissen, täuscht jedoch ebenso schnell darüber hinweg, daß der Solidarität Lanzmanns und Amerys ganz unterschiedliche Erfahrungen zugrunde liegen. Diese Erfahrungen haben beider Werk entscheidend geprägt, mithin auch ihre Reflexionen auf die Judenfrage, auf die beide erzwungenermaßen Antworten suchen. An der jeweiligen Beschäftigung mit Sartres Überlegungen zur Judenfrage weten die Unterschiede deutlich hervor. Die befreiende Wirkung dieses Essays, von der Amerys späteres Werk Zeugnis ablegt, hat Lanzmann so sicherlich nicht erfahren; zunächst hat die Lektüre ihn vielmehr in Staunen versetzt und neugierig gemacht. Ebenso wie Am£ry hatte er sich der Résistance angeschlossen, mit allerdings weitaus mehr Gliick: er wurde nie verhaftet, nicht gefoltert und nicht in ein Konzentrationslager verschleppt. Zudem befand sich der noch jugendliche Lanzmann da nicht wie Améry im Exil, sondern im eigenen Land, das auch unter deutscher Besatzung noch immer Frankreich war. Daß er als Jude einer besonderen Gefahr ausgesetzt war, war ihm wohl bewußt - ich stütze mich hier und im folgenden vor allem auf seine Memoiren? —, doch es schien ihn nicht mehr zu beunruhigen als die faschistische Okkupation selbst. In den Reihen der Resistance kämpfte er in erster Linie als Kommunist. Ame£ry entdeckt Sartres Text in Brüssel, wo er sich nach seiner Befreiung, in ausreichender Entfernung Deutschlands, am Rande der französischen Welt niedergelassen hat. Lanzmann wird von deutschen Studenten darauf gestoßen, und zwar an der soeben eröffneten Freien Universität Berlin, wo er 1948 einen Lehrauftrag im Fach Philosophie übernimmt. Ressentiments gegen das Land, das er nach wie vor als „Heimat der Philosophie“? zu schätzen weiß, sind ihm fremd, wiewohl er bald herausfinden wird, daß es sich bei der erklärtermaßen Freien Universität um ein „braunes Nest“? handelt. Der Wunsch der Studenten, Sartres Überlegungen in einem Seminar zu diskutieren, verwundert und bewegt Lanzmann, der sich zur Erfüllung der ihm angetragenen Aufgabe zunächst nicht in der Lage sieht."! Wie Am£ry erkennt er in dem von Sartre gezeichneten Bild des Juden sich selbst. Anders als jener aber nimmt er es nun zum ersten Mal überhaupt wahr. Amery hat 1935 bereits erfahren, wie die Gesellschaft ihn „in aller Form und mit aller Deutlichkeit zum Juden gemacht“ und damit seinem „früher schon vorhandenen, aber damals nicht folgenschweren Wissen, daß ich Jude sei, eine neue Dimension gegeben“? hat. Diese negative Bestimmung November 2012 21