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findet er bei Sartre wieder, dessen Überlegungen nicht vom Judentum, sondern vom Antisemitismus ausgehen und von dort erst zu einer möglichen Bestimmung des Judentums vordringen. Es wird noch bis ans nahe Ende seines Lebens dauern, ehe Amery von dem Zwang und der Unmöglichkeit, Jude zu sein, zu einer positiven Auffassung seines Judentums gelangt, das er schließlich nicht nur akzeptiert, sondern als unleugbaren und unablegbaren Ausweis der Zugehörigkeit trotzig für sich in Anspruch nimmt." Lanzmann beschäftigt die Frage nach der Existenz eines jüdischen Volkes zunächst weit mehr als der Antisemitismus, dem er, im Gegensatz zu Amery, noch mit einer geradezu jungfräulichen Unbescholtenheit begegnet. Umgekehrt wird er diese negative Bestimmung des Judentums erst viele Jahre später, nämlich in Gestalt der Bedrohung Israels, in vollem Umfang wahrnehmen. Die Auseinandersetzung mit Sartres Überlegungen zur Judenfrage stellt für ihn nicht so schr eine geistige Befreiung dar, sondern eher eine Initiation, die er selbst jedoch nie erfolgreich zu Ende bringen wird. Wie er betont, besteht zwischen der Lektüre — oder sollte man sagen: Offenbarung? — des Sartreschen Textes und seinem ersten Besuch Israels im Jahr 1952 ein direkter Zusammenhang.'4 Lanzmann, der von Hause aus mit der jüdischen Tradition ebensowenig vertraut ist wie Am£ry, schildert diese Reise als Entdeckung. Nach seiner Rückkehr erklärt er Sartre, mit dem ihn inzwischen eine enge Freundschaft verbindet, daß dessen Überlegungen „überprüft, umgeschrieben, ergänzt werden“ müßten; daß „die Juden nicht auf die Antisemiten gewartet hätten, um zu existieren“). Sartre gibt ihm recht und schlägt vor, anstelle des geplanten Artikels über Israel ein Buch zu schreiben. Auch dieses Vorhaben wird Lanzmann schließlich aufgeben; statt ein Buch zu schreiben, macht er zwanzig Jahre später seinen ersten Film. Die emotionale Vorbereitung von Pourguoi Israel hat somit länger noch gedauert als die Arbeit an Shoah. In Israel entdeckt Lanzmann nicht nur das neugierig gesuchte jüdische Volk, zu dem er sich hingezogen fühlt, sondern auch, daß er selbst nicht dazugehört: Wie ein verschüchterter Dieb strich ich um diese Orte des Gebeis, wagte jedoch nicht einzutreten, verstand nichts von dem, was gesprochen wurde und vor sich ging, fühlte mich abgelehnt, verstoßen, ausgeschlossen von denen, die ich mit wildem Trotz als die Meinen betrachten wollte ..."° Ähnlich und doch ganz anders ergeht es Amery, als er mit einem jüdischen Freund der Aufführung von Arnold Schönbergs A Survivor from Warsaw beiwohnt: Als, von Posaunenklängen begleitet, der Chor anstimmie ‚Schma Israel‘, wurde mein Begleiter kalkbleich, und Schweifßperlen traten auf seine Stirn. Mein Herz pochte nicht schneller, aber ich fühlte mich bedürftiger als der Kamerad, den das unter Posaunenstößen gesungene Judengebet erschüttert hatte. Jude sein, dachte ich mir nachher, ich kann es nicht in Ergriffenheit, nur in Angst und Zorn, wenn die Angst sich, um Würde zu erlangen, in Zorn verwandelt. ‚Höre Israel‘ geht mich nichts an. Nur ein ‚Höre Welt“ möchte zornig aus mir dringen. So will es die sechsstellige Nummer auf meinem Unterarm. So fordert es das Katastrophengefühl, Dominante meiner Existenz.” Ein „philosophisches Staunen und eine nie nachlassende Bewunderung für die jüdische Religion“'®, wie der ansonsten ungläubige Lanzmann sie empfindet, bleibt Amery stets fremd. 22 _ ZWISCHENWELT „Existential-Positivist und obstinater Atheist“ sei er, und als solcher falle es ihm „nicht ein, aus dem jüdischen Schicksal ein Metaphysikum zu machen.“ Die Juden seien „so wenig ein auserwähltes Volk wie ein verfluchtes“, sondern „nichts als die ZufallsResultante geschichtlicher Konstellationen, die ihnen seit zwei Jahrtausenden ungünstig waren.“'? Das schreibt er 1976, kurz nach seinem ersten und einzigen Besuch Israels. Mochte ihn auch die Anrufung des israelischen Volkes nichts angehen: das Land, das seit 1948 diesen verheißungsvollen Namen trägt, geht ihn allemal etwas an. Und das umso mehr, seit er in den späten sechziger Jahren feststellen muß, daß auch diejenigen, die er als seine Verbündeten auf der Linken erachtet, den im übrigen ganz weltlichen jüdischen Staat im Namen eines antiimperialistischen Befreiungskampfes denunzieren. Die Solidarität bleibt gleichwohl eine negativ bestimmte. Nicht so etwas wie die Sehnsucht nach einer jüdischen Heimstatt, sondern der Zwang, Jude zu sein, ist es, was ihn mit dem Land verbindet, von dem er nach seiner Israelreise sagt, daß dort „der Jude sich nicht mehr im Sinne Sartres das Eigenbild vom Feinde aufprägen läfßt“.2° Das Bild, das Amery sich von Israel macht, bleibt von dieser Erfahrung weithin unbeeindruckt. Mehr als alles andere interessiert ihn das bloße „Bestehen eines Judenstaates“, der „alle Juden der Welt den aufrechten Gang wieder gelehrt“?! habe. Die wenigen Briefe, die er aus Israel schreibt, geben Auskunft über das, was ihn dort am meisten beschäftigt. Es sind keine religiösen und nur am Rande einmal so etwas wie kulturelle Fragen. Aus Tel Aviv berichtet er seinem Freund Ernst Mayer von einem „Volk in Waffen“, dessen Anblick ihn fasziniert. Unter dem Eindruck eines bevorstehenden Krieges schreibt er: „wenn ich auch nicht zielen kann, zum Losballern würde es wohl langen...“ Die Frage der Gewalt — oder der Violenz, wie er sie nach der Lektüre Frantz Fanons nennt*‘, auch um das, was er meint, dem Bedeutungsbereich der von den Deutschen verübten Gewalt zu entziehen — wird Amery mit der Bedrohung Israels aufs neue gestellt. Als ganz praktische Frage ist sie ihm längst zu Leibe gerückt. Auch Lanzmann, der, als Resistancekämpfer von den Deutschen verfolgt und doch immer noch in Freiheit, zur Waffe greift, ist ihr die Antwort nicht schuldig geblieben. Am£ry aber entschließt sich zur Gewalt unter Bedingungen äußerster Unfreiheit. Als Häftling in Auschwitz ergreift er die ihm plötzlich sich bietende Möglichkeit, einen Vorarbeiter mit der Faust zurückzuschlagen; bereit, eher noch die furchtbaren Konsequenzen dieser Tat als die fortwährende Demütigung zu ertragen.” Über den militärisch erfolglosen Aufstand im Warschauer Ghetto, den Lanzmann darum an das Ende seines Films Shoah stellt, urteilt Améry, das sei „die Verneinung der Ghetto-Kondition“ gewesen, „die Auslöschung von zweitausend Jahren falscher Leidens-Solidarität, die Wiederherstellung nicht der ‚Würde‘, sondern des Menschentums schlechthin, die rächende Stiftung der Gerechtigkeit, die Chance zur Errichtung eines neuen Reiches der Menschen auf Erden.“ Dieses Motiv, die Wiederherstellung des Menschentums schlechthin, stellt Lanzmann in dem Film Sobibér, 14 octobre 1943, 16 heures heraus. Protaganist des Films ist Yoshua Lerner, der als sechzehnjähriger Junge in Sobibor einen deutschen Offizier mit einer Axt tötet. Lerner, sagt Lanzmann, habe „darauf bestanden ..., wieder ein Subjekt zu werden und gegebenenfalls als Subjekt zu sterben.“ Das sei für ihn, Lanzmann, „ein mythischer Moment“. Wie Yoshua Lerner als ein Mensch, der zuvor nicht