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einmal daran gedacht hatte, jemanden zu töten, zur Waffe greifi, hat auch sehr viel mit den Wurzeln des heutigen jüdischen Staates zu tun.” Zwischen der Gewalt, die der Film Sobibör schildert, und der israelischen Armee, die Lanzmann in seinem Film Tsahal dokumentiert, bestehe „eine wirkliche Verbindung®. Diese Verbindung hat Lanzmann selbst erst ziemlich spät wahrgenommen. Während er sich als Publizist in den fünfziger und frühen sechziger Jahren für den Kampf der antikolonialen Bewegungen, vor allem in Algerien, engagiert — mit Frantz Fanon ist er sogar gut befreundet -, interessiert ihn Israel vor allem unter dem Aspekt eines ihm verbundenen und zugleich unerreichbaren Judentums. Das ändert sich im Verlauf der sechziger Jahre, als auch sein Vertrauen in die revolutionären Erhebungen zu schwinden beginnt. Bei der Feier zur Unabhängigkeit Algeriens, zu der er geladen ist, erklärt ihm ein Hauptmann, man werde hunderttausend Mann in den Nahen Osten schicken, um Palästina zu befreien. „Jetzt“, schreibt Lanzmann rückblickend, „drängte sich diese düstere Tatsache mit aller Macht auf, der ich mich bis dahin verschlossen hatte und die mir erstaunlicherweise zehn Jahre zuvor, bei meiner ersten Reise, nicht bewusst geworden war, so sehr hatten die metaphysischen oder eher ontologischen Fragen, die durch die unwahrscheinliche Existenz dieses Staates aufgeworfen wurden, alles andere verdrängt und die weiß Gott existenzielle Gefahr verdeckt, die dem jungen Staat drohte.“ Als eine Allianz arabischer Staaten im Frühjahr 1967 konkrete Vorbereitungen trifft, Israel militärisch zu vernichten, ist Lanzmann die Bedrohung, wenngleich sie ihn unmittelbar nicht betrifft, im emphatischen Sinne des Wortes gegenwärtig. Als 25 Jahre zuvor die Juden Europas vernichtet wurden, sei das anders gewesen. Obschon er ein Zeitgenosse der Shoah war und ihr Opfer sein hätte können, habe das Grauen, das ihn beim Gedanken daran packt, „sie in eine andere Zeit, fast in eine andere Welt verschoben, in sternenweite Entfernung außerhalb der menschlichen Zeit, ein fast sagenhaftes illo tempore. Das konnte sich nicht zu meiner Zeit zugetragen haben ...“%° Diese Verschiebung nennt er selbst als einen Grund oder vielmehr eine Bedingung dafür, daß er einen Film wie Shoah habe machen können; wäre er selbst im Konzentrationslager gewesen, hätte er niemals zwölf Jahre seines Lebens damit verbringen können?! Was Améry aus einer nicht abzuschüttelnden Erfahrung heraus in gegenwartiger Erinnerung schildert, gelingt Lanzmann erst in der Position des Außenvorbleibenden, die er ganz bewußt und ohne Anmaßung bezieht. Er selbst nennt es die „Haltung des Zeugen“, die er seit seiner ersten Israelreise einnehme und die ihrerseits von ihm verlange, „dass ich zugleich drinnen und draußen war, so als wäre mir ein unerbittlicher Auftrag erteilt worden. “? Die Unerbittlichkeit des Auftrags resultiert bei Lanzmann nicht aus Erlittenem, das auf Ausdruck drängt, sondern aus späteren Erfahrungen, die er als Zeuge der israelischen Gesellschaft und ihrer Feinde macht. Die äußere Chronologie stimmt hier mit den innersten Beweggründen überein: Erst nach der Vorführung von Pourquoi Israel wird man ihn bitten, einen Film über die Shoah zu drehen. Zehn Jahre zuvor hätte er niemals daran gedacht. Was es mit der unwiderruflichen Beschädigung des Lebens auf sich hat, wie Am£ry sie in den Lagern der Nazis erleidet, lernt Lanzmann erst schr viel später aus der Perspektive des Zeugen kennen; und so wird es er es in seinen Werken darstellen. Während jener als junger Schriftsteller, der unter dem Einfluß des Wiener Kreises gerade seine intellektuelle Unabhängigkeit gewonnen hat, plötzlich in den Abgrund der Geschichte hineingerissen wird, wächst dieser im Kampf gegen die deutsche Besatzung zu einem Intellektuellen erst heran. Jean Amery würde den Claude Lanzmann, der in den fünfziger Jahren noch mit gesellschaftspolitischen Reportagen von sich reden macht, kaum als einen jener geistigen Menschen wahrgenommen haben, als welchen er sich selbst beschreibt. Im Vergleich zu Amery, der sich sarkastisch damit brüstet, Dichter wie Detlev von Liliencron und Neidhart von Reuenthal seien ihm enger vertraut als die einfachsten physikalischen Vorgänge in der Welt®, ist Lanzmann ein Abenteurer und Draufgänger cher als ein Schöngeist; jemand, der illegal die DDR bereist, der eine Krankenschwester in Nordkorea zu einem verbotenen Stelldichein verführt, der in der Schweiz auf Berge klettert und beim Schwimmen vor der israelischen Küste beinah ertrinkt. Dieses Temperament kommt ihm bei der Arbeit an seinen Filmen in entscheidenden Augenblicken zugute. Daß er schließlich den Film als Medium für sich entdecken wird, erscheint vor diesem Hintergrund folgerichtig. „Alles könnte leichter getragen werden, wenn meine Verbundenheit mit den anderen Juden sich nicht erschöpfte in revoltierender Solidarität“, schreibt der von seinem Temperament her keineswegs so abenteuerlustige Ame£ry. Eine revoltierende ist diese Solidarität auch insofern, als sie aufbegehrt gegen die Verlassenheit, die für Amery mit der jüdischen Existenz selbst schon gesetzt ist. Von solcher Verlassenheit, die tödlich ist, unterscheidet Hannah Arendt die Einsamkeit, die sich als durchaus heilsam erweisen mag.” So bei Claude Lanzmann. Nicht Verlassenheit, sondern Einsamkeit ist es, die er bei seiner ersten Reise nach Israel empfindet. Solidarität angesichts der Bedrohung ist für ihn eins mit der Anteilnahme am Schicksal derer, die er bald mit aufrichtiger Empathie als die Seinen betrachtet. Die Unmöglichkeit, Jude zu sein, ist unvergleichlich leichter zu nehmen ohne den einmal erfahrenen Zwang, es sein zu müssen. Christoph Hesse, Dr. phil., hat Film- und Fernsehwissenschaft, Germanistik und Philosophie in Bochum studiert. Mitarbeiter des Bereichs Kommunikationsgeschichte/Medienkulturen am Institut fir Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der FU Berlin; arbeitet dort zurzeit an einem von der DFG geförderten Forschungsvorhaben zum Filmexil Moskau der 1930er und 40er Jahre. Buchveröffentlichungen: Filmform und Fetisch (2006); Exil in der Sowjetunion 1933-1945 (2010, hg. mit Hermann Haarmann); Briefe an Bertolt Brecht im Exil. 3 Bande (2012, hg. mit Hermann Haarmann). Anmerkungen 1 Vgl. Irene Heidelberger-Leonhard: Jean Am£ry. Revolte in der Resignation. Biographie. Stuttgart: Klett-Cotta 2004, 231. 2 Gerhard Scheit: Nachwort. In: Jean Améry: Werke. Hg. v. Irene Heidelberger Leonard. Bd 6. Hg. v. Gerhard Scheit. Stuttgart: Klett-Cotta 2004, 618. 3 An den Grenzen des Geistes. Tagung zum 100. Geburtstag Jean Amérys am 17. November 2012 in der Akademie der Künste, Berlin. 4 Dessen journalistische Arbeiten sind soeben in einer Auswahl erschienen. Claude Lanzmann: La tombe du divin plongeur. Paris: Gallimard 2012. 448 S. 5 Vel. Claude Lanzmann: Der Ort und das Wort. Uber Shoah. Aus dem Französischen von Stefanie Buchenau. In: Ulrich Baer (Hg.): ‚Niemand zeugt für den Zeugen‘. Erinnerungskultur nach der Shoah. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, 103. 6 Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. Werke. Bd. 2. Hg. v. Gerhard Scheit. Stuttgart: Klett-Cotta 2002, 173. November 2012 23