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7 Jean Amery: Der ehrbare Antisemitismus (1969). Werke. Bd 7. Hg. v. Stephan Steiner. Stuttgart: Klett-Cotta 2005, 136. 8 Claude Lanzmann: Der patagonische Hase. Erinnerungen. Aus dem Französischen von Barbara Heber-Schärer, Erich Wolfgang Skwara und Claudia Steinitz. Reinbek: Rowohlt 2010. 682 S. 9 Ebd., 251. 10 Zitiert nach Natascha Freundel: Die Israelis töten, aber sie sind keine Killer. Gespräch mit Claude Lanzmann. In: Berliner Zeitung, 24.1.2009. 11 C. Lanzmann, wie Anm. 8, 260 f. 12 J. Amery, wie Anm. 6, 153. 13 Vgl. J. Amery: Mein Judentum. Werke Bd. 7, wie Anm. 7, 31-46. 14 Vgl. C. Lanzmann, wie Anm. 8, 261. 15 Ebd., 317. 16 Ebd., 305. 17 J. Amery, wie Anm. 6, 175 £. 18 C. Lanzmann, wie Anm. 8, 643. 19 Jean Amery: Der ehrbare Antisemitismus. Rede zur Woche der Brüderlichkeit (1976). Werke Bd. 7, wie Anm. 7, 184 f. 20 Ebd., 177. Irene Heidelberger-Leonard Flaubert — Sartre — Amery Charles Bovary als Antwort auf Der Idiot der Familie? In einem Aufsatz über Macht und Ohnmacht der Intellektuellen’ verteidigt Jean Améry — seiner eigenen Skepsis widerstehend — den von jeher umstrittenen Anspruch des engagierten Schriftstellers, die Gesellschaft schreibend zu verändern. Noch 1968 galt ihm Jean-Paul Sartres Engagement als unanfechtbar. Sartre beendete zwar seine Kindheitsbiographie mit der so oft zitierten Erkenntnis: „Lange hielt ich meine Feder für ein Schwert, jetzt kenne ich unsere Ohnmacht“, doch setzte er dem eine nicht zu übersehende Absichtserklärung entgegen: „Trotzdem schreibe ich Bücher und werde Bücher schreiben; das ist nötig, das ist trotz allem nützlich.“? Das offenbare Dilemma des schreibenden Intellektuellen wird damit nicht aus der Welt geschafft, das „Trotzdem“ schlägt Alarm. Gerade diese Krise vermag Jean Améry in ein Positivum umzufunktionieren. Sie sei, schreibt er, auf einem Höhepunkt angelangt, dort nämlich, wo die Intellektuellen in der Erkenntnis ihrer Ohnmacht auch die Spuren ihres unleugbaren Einflusses wiederfinden. Sie werden dann die Kraft haben, ihren Auftrag weiter zu erfüllen, der heifst: Anfechtung, Kontrolle, Selbstbehauptung des Geistes und damit des Humanen. Keiner könnte Robespierre oder Trotzki sein. Der Zola des Jaccuse zu werden, hat noch jeder seine Chance‘ Mit dem Charles Bovary, Landarzt, der den bedeutsamen Untertitel Porträt eines einfachen Mannes twägt, hat Jean Amery seine Chance wahrgenommen: Das letzte Kapitel dieses Porträts gipfelt — zunächst — in einem „J’accuse“ nach dem zitierten Modell von Zola. Ich möchte behaupten, Jean Amery nimmt diese Chance sozusagen stellvertretend wahr, denn sein Mentor Jean-Paul Sartre hat sie, so Améry, mit seinem Flaubert-Buch, Der Idiot der Familie, verspielt. Lasen wir im oben zitierten Aufsatz noch eine vorbehaltlose Rehabilitierung des Autors der Worter als eines Paradebeispiels des revolutionaren Intellektuellen, so gibt Jean Améry in seiner Rezension zu Der Idiot der Familie zu bedenken: ,,Unser Autor, der kein biirgerlicher Intellektueller mehr sein will, sondern ein Mann der Praxis und Diener der Revolution, hat mit diesem hochgradig elitaren, ja esoterischen 24 — ZWISCHENWELT 21 Ebd., 176. 22 Jean Améry: Brief an Ernst Mayer, 28.3.1976. Werke. Bd 8. Hg. v. Gerhard Scheit. Stuttgart: Klett-Cotta 2007, 524. 23 Jean Amery: Brief an Ernst Mayer, 16.3.1976. Ebd., 524. 24 Vel. Jean Améry: Die Geburt des Menschen aus dem Geiste der Violenz. Der Revolutionär Frantz Fanon. Werke Bd. 7, wie Anm. 7, 428-449. 25 Vel. J. Améry, wie Anm. 6, 161 f 26 Jean Améry: Im Warteraum des Todes. Werke Bd. 7, wie Anm. 7, 472. 27 Zitiert nach Katja Nicodemus: ,,Ich will den Heroismus zeigen“: Interview mit Claude Lanzmann. In: Die Tageszeitung, 17.5.2001. 28 Ebd. 29 C. Lanzmann, wie Anm. 8, 491. 30 Ebd., 530. 31 Vel. ebd., 310. 32 Ebd. 33 Vgl. J. Amery, wie Anm. 6, 24 f. 34 Ebd., 175 f. 35 Vgl. Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. München: Piper 2001, 976-978. Werk in gewissem Sinne seine jüngsten Schriften über den Intellektuellen und die Revolution dementiert.“ Von Seiten des Sartre-Verehrers Jean Amery sind das harte Worte. Er bezichtigt Sartre des Verrats, des Verrats an seiner gesellschaftlichen Rolle als Intellektueller. Mit seinem Flaubert-Opus fällt Sartre zurück in die Rolle des bürgerlichen Philosophen, der er im Grunde doch immer geblieben ist. Der Kritiker der Bourgeoisie, spöttelt Ame£ry, habe sich einen Dichter dieser Bourgeoisie zum Helden gewählt. Schon aus dieser scharfen Kritik läßt sich erraten, daß Amery zum Roman Sartres, der seinen Flaubert un roman vrai“ nennt, einen Gegenroman plante, seine Version eines „Romans des Wahren“. Es ist kein Geheimnis, daß Jean Amery sich bis zum Schluß seines Lebens im Hinblick auf Jean-Paul Sartre definiert hat. Sartres existentialistische Philosophie wurde dem aus dem Konzentrationslager Entlassenen „zur ganz persönlichen Philosophie des Lebenshungers.“® „... Da ich aber nichts war, konnte ich dank der Sartre’schen Freiheit alles sein“, reflektiert er 1971 in seinen Unmeisterlichen Wanderjahren. Seine „Existenzsorgen“ — so betitelt Jean Am£ry ein Kapitel in dieser autobiographischen Schrift — weiß er im Gedankengebäude Jean-Paul Sartres gut aufgehoben. Obwohl er schon früh einige Unstimmigkeiten erkennt, folgt er dem Meister unbeirrbar, selbst durch das Gestrüpp der Widersprüche hindurch. Sei es naive „Vateridentifizierung“'', sei es „zutrauliche Verehrungssucht“'', „der Lehrer war meine Schickung und meine freie Wahl, meine Selbstaufgabe und mein Selbstgewinn“'?, bekennt Jean Amery. Solche Hingabe, die selbst Sartres politische und philosophische Irrtümer moralisch aufzuwerten weiß'?, wird wenige Jahre später einer scharfen Korrektur unterzogen. In seinem Aufsatz Sartre: Größe und Scheitern‘ wird sehr viel nüchterner Bilanz gezogen. Sartres Größe, meint Am£ry, schlösse auch sein Scheitern mit ein. Wohlbemerkt, hier geht es um ein echtes Scheitern, nicht um ein rhetorisches wie in den Unmeisterlichen Wanderjahren, das Sartres Niederlagen vor der Geschichte als Triumph des Protestes