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angeblich nicht Wissenden bewußt wissend macht. Charles’ Potential läßt Flaubert nie zum Zuge kommen; ja, er würgt es sogar ab, indem er ihn als Verstummten seiner Geliebten nachsterben läßt. Vorerst spricht der verzweifelte Ehemann allerdings den berühmten Satz, den einzigen, den Flaubert ihn selbst artikulieren läßt: „C’est la faute de la fatalite* — Schuld war das Verhängnis. Dieser Satz steht in direktem Gegensatz zu den ‚Ich-will‘-Sätzen, die Flaubert seinem Charles nur schriftlich zugestand, mit denen Jean Amery aber die Totenklage einsetzen läßt. Der Bogen, der von der Schicksalserklärung zur Willenskundgebung gespannt wird, macht dieselbe Entwicklung kenntlich, wie sie im ProustZitat zwischen blinder Ergebung und Ichfindung zum Ausdruck kommt. Diese Ichfindung gipfelt im letzten Améry-Kapitel in Charles’ ,,J’accuse*: Charles entdeckt sich als einen, den Flaubert hat nicht sehen wollen ... Er hat verspätet die totale Passion vollzogen, von der wir nun wissen, daß sie allein, und nicht Rodolphes gleichgültige Spielerei, noch Leons puerile Verliebtheit, Emmas bedingungsloser Bereitschaft hätte gerecht werden können. So wird Charles erhöht und steht als ebenbürtig mit Emma vor uns: nun sind sie beide tragische Heldenfiguren im bürgerlichen Trauerspiel Madame Bovary.” Was aber berechtigt den Schriftsteller Am&ry dem Schriftsteller Flaubert ins Handwerk zu pfuschen? Dazu Amery selber: Vermesse ich mich, dem Meister Flaubert sein Geschöpf aus den Händen zu nehmen und zu verwandeln, kann ich dies nur rechtfertigen, wenn ich über die Frage der Wahrscheinlichkeit hinweg zum Problem des ‚bürgerlichen Subjekts‘ gelange.* Das heißt: Flauberts fehlendes politisches Gewissen macht seinen Roman ästhetisch angreifbar und stellt den so oft zitierten Realismus des Romans in Frage. Dieser Debatte widmet Amery zwei Essay-Blöcke, die er in seine Erzählung einbaut: Kapitel 3: „Die Wirklichkeit Flauberts“ wird kontrapunktisch Kapitel 5: „Die Wirklichkeit Charles Bovarys“ gegenübergestellt. Beide Kapitel geben seiner Schrift den theoretischen Überbau, was natürlich nichts an der Tatsache ändert, daß hier eine Erzählerwillkür — die Ame£rys — gegen eine andere — die Flauberts — ausgespielt wird. Nur daß Amerys Willkür den Getretenen zugute kommt, an denen sich Flaubert aus reinem Bürgerhaß, der aber — und hier wurzelt Amérys Vorwurf — keineswegs sozialkritisch verankert ist, vergangen habe. Es ist ja nicht nur Charles, den Améry aufwertet, sondern auch der lächerliche Nachplapperer der ‚id&es recues‘ Homais, der bei Am£ry als potentielle Aufklärerfigur hochgehalten wird. Es handelt sich bei Am£ry also nicht um Gefühlsduselei, die instinktiv Partei für die Unterdrückten ergreift, davon abgesehen, daß Homais ja der einzige ist bei Flaubert, der genau das erreicht, was er sich vorgenommen hat. Sein Unternehmen legitimiert Amery dadurch, daß er die gesellschaftliche und historische Dimension, die Flaubert ignoriert, an den Flaubert-Roman heranträgt. Wir brauchen nur Am£rys Lessing-Rede? zu lesen, die übrigens zur selben Zeit verfaßt wurde wie die Niederschrift von Charles Bovary, um zu schen, wie ernst es Amery mit den Idealen der Aufklärung, der Französischen Revolution ist. Das bürgerliche Subjekt, das Flaubert als Ausgeburt von Engstirnigkeit und Dummheit verhöhnt, gilt Amery vorrangig als „bourgeois citoyen“, als bourgeois homme. Charles, klagt Améry in seiner Schrift, sei deshalb von seinem Erfinder in Stich gelassen worden, weil Flaubert in ihm, der immerhin mit seiner Arbeit gegenüber der Gesellschaft sein Soll erfüllt, in keiner Weise „den Werthalter eines historischen Zeitabschnitts“, den „Bringer einer besseren Zukunft“ wahrnimmt. Es geht Am£ry nicht darum, aus dem Immoralisten Flaubert einen Zola zu machen. Er erkennt durchaus, daß die gesellschaftliche Unverbindlichkeit in Flauberts ‚Part pour l’art‘-Kunstbesessenheit ihre Entsprechung findet. Was ihn abstößt, ist das Umschlagen von angeblicher Objektivität in boshafte Ironie, wie etwa mit dem Bürger Homais, der seinem Opportunismus zum Trotz ein Mann des Fortschritts ist. Bei Flaubert wird er zum lächerlichen Popanz. „Gustave Flaubert ... hat in seiner Künstler Hoffart nicht ... sehen wollen, daß die Homais-Figuren aller Spielarten die Träger des bürgerlichen Fortschritts waren, die Vorläufer jener, die in der Dritten Republik die Radikale Partei wählten, historisch am rechten Platz stehende Ahnherrn derer, die mit Zola und Clemenceau für den Hauptmann Dreyfus eintraten.“ Er jage mit der Behandlung von Homais und anderen die ganze bürgerliche Aufklärung zum Teufel, und dies nicht etwa aus wirtschaftlichem Determinismus, sondern aus Haß, ja aus Selbsthaß. Als selbsternannter Aristokrat benutzt er seine Welt (inklusive die Bauernmagd, die in der Bovary für ihre 45 Dienstjahre ausgezeichnet wird) als bloße Umgebung, als Bühnendekoration. Zum bürgerlichen Subjekt habe er keinen Zugang. Charles Bovary, obwohl Samariter, obwohl ein Träger von bürgerlich sozialen Werten, bleibt der ‚ungefüge Jämmerling‘, als den seine Frau ihn erleidet. Wenn Flauberts Genie sich an Emma entziinde, dann nur, weil er da aus der Wirklichkeit in die Wörter fliehen kann. „Ihr Exzeß ist der seine, ihre Mystik der Passion das Analogon zur mystischen Kunstverfallenheit des Dichters.“ Und trotzdem bleibt Flaubert in seinem Roman der Realist, als der er gefeiert wird; es handelt sich dabei um „intersubjektiv erfahrbare Wirklichkeiten, deren er sich so wenig begeben kann wie ein bewußt sie Suchender.“ Gustave Flaubert ließe sie in zweifacher Form in seinen Roman eingehen, in der Form des Geldes und des Fleisches. Emma wähle ihr „Schönheitsgeschick“, sie erleide allerdings das kapitalistische Gesetz des Geldes, das sei ihre „fatalite“. Nicht Emma, sondern Charles ist es, der expressis verbis von Flaubert zum Opfer und Träger der „fatalit€“ ernannt wird. Warum ist seine Figur von vornherein als lächerlich angelegt? Seine Anfänge als „Charbovary“ mit der Strafarbeit „ridiculus sum“ bereiten schon sein verächtliches Ende vor. Flaubert hätte ihm jene existentielle Freiheit nicht zugebilligt, die doch im Kodex der bürgerlichen Gesellschaft und der Erklärung der Menschenrechte eingezeichnet war. Warum darf Emma ihre Leidenschaft erfüllen, Charles sie aber nur erleiden? Warum hat nicht auch Charles — hier wieder der unverkennbare Sartre-Einfluß — „etwas machen können aus dem, wozu man ihn gemacht hat?“ Warum wehrt sich Charles nicht gegen die Eskapaden von Emma, sondern leistet ihnen sogar Vorschub? Warum wehrt er sich nicht gegen die Demütigung, die ihm das Mißlingen der Klumpfußoperation einbringt, wo bekanntere Medizingrößen (Lariviere z.B.) ein solches Scheitern fatalistisch hinnehmen würden? Flaubert sei gewissenhaft realistischer Erzähler gewesen bei der Beschreibung des Landwirtschaftsfests, des Hochzeitschmauses, beim Ball auf dem Schloß Vaubyessard. Den Boden des Realismus verlasse er, indem er sich ausschließlich den Phantasmen Emmas hingebe und dabei die innere und äußere Wirklichkeit des Charles Bovary unterschlage. Ein Tropf, ein Tölpel könne nicht 24 Stunden lang Tropf und Tölpel bleiben. Selbst wenn Flaubert ihm das Menschenrecht des Denkens verweigere, hätte er zumindest Anspruch auf das Recht des Fühlens. Amery zitiert als Beispiel die Szene, in der Emma nach Erhalt des Briefs von Rodolphe, in dem er sie endgültig von sich stößt, durch ihre Ohnmachtsanfälle hindurch November 2012 27