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Miriam Mettler Jean Amery und Jean-Paul Sartre Mit seinem Essay Überlegungen zur Judenfrage, welcher im Oktober 1944, wenige Wochen nach der Befreiung von Paris geschrieben wurde, reflektiert Jean-Paul Sartre das Wesen des Antisemitismus. Hauptsächlich vom Vorkriegs-Frankreich ausgehend, beschreibt er dessen irrationale Wurzeln, die er mit dem Begriff der „Leidenschaft“ zu fassen versucht. Er zeichnet ein Profil sowohl des Antisemiten, des Feinds des Juden, als auch des „Demokraten“, dessen „leidenschaftslosen Verteidigers“, und beschreibt typische Reaktionsweisen der Juden hierauf. Es handelt sich dabei um den Versuch einer sozialpsychologischen Analyse des Antisemitismus mittels der Terminologie des Sartre'schen Existentialismus. Eine Beschreibung, die, ihrem Gehalt nach jedoch der Ebene der „pathischen Projektion“ ähnelt, auf der die Kritische Theorie den Antisemitismus analysiert hat. Auch Sartre kommt zu dem Ergebnis, daß das antisemitische Bedürfnis das Urteil über „den Juden“ vor jeder Erfahrung bestimmt; die Realität stets so ausgelegt wird, daß sie dem Bedürfnis des Antisemiten Genüge tut. Die jüdische Gemeinschaft indessen sei nach jahrtausendelanger Zerstreuung und politischer Ohnmacht nicht als solche anhand ihrer historischen, religiösen oder nationalen Vergangenheit zu bestimmen. Die Annahme rassischer Merkmale des Juden lehnt Sartre ebenfalls ab, „sofern sie nicht experimentell bestätigt wurde(n)“. Und wenn dies der Fall sei, so seien die „omatischen und erblichen Züge des Juden als ein Faktor seiner Situation unter anderen, nicht als determinierende Bedingung seiner Natur“! zu betrachten. Der Jude sei in dieser Gesellschaft, so Sartre, ein Mensch, den andere Menschen für einen Juden halten, d.h. der Mensch sei in der $tuation des Juden, wenn er in einer Kollektivität lebt, die ihn zum Juden ernennt. Somit ist für Juden „das einzige sie verbindende Band ... die feindselige Verachtung der sie umgebenden Gesellschaften“, welche ihnen den Zugang zu ihren Werten verweigern. Dieser Argumentation entsprechend sei der Jude nicht „frei, Jude zu sein“, da er nicht wählen könne, kein Jude zu sein. „Jude sein heißt, in die jüdische Situation geworfen, in ihr verlassen zu sein.“ Bei Sartre hat der jüdische Mensch jedoch — wie jeder andere — die Möglichkeit der Wahl, d.h. er kann sich entscheiden, sich den gegebenen gesellschaftlichen Voraussetzungen - seiner Situation — zu stellen, was Sartre als authentisch bezeichnet, oder diese zu verleugnen, d.h. die Wahl der Inauthentizität zu weften. Sartre betont, daß diese Begriffe (der Authentizität und Inauthentizität) nicht im landläufigen Sinne zu verstehen seien, da sie keine moralische Wertung implizierten.? Jüdische Authentizität — d.h. das volle Bewußtseins über die gegebene Wirklichkeit — bedeutet dem antisemitisch Bedrohten jedoch die Hinnahme eines unmenschlichen Zustands: „Der authentische Jude gibt den Mythos vom allgemeinen Menschen auf: er kennt sich und fordert seinen Platz in der Geschichte als historische und verdammte Kreatur.“ So „macht sich“ der authentische Jude selbst zum Juden, anstatt vor der jüdischen Realität zu fliehen und vom Antisemiten zum Juden wider Willen gemacht zu werden. Er muß somit „seinen Stolz aus seiner Erniedrigung“ gewinnen, ein Zustand, der von Sartre als „lebensunwürdig“‘ bezeichnet wird. Ein sich authentisch wählender Jude ist somit einer, der „in und wegen der ihm entgegengebrachten Verachtung 30 ZWISCHENWELT zu sich selber steht.“? Demzufolge bleibt dem Juden die Wahl, zum „Märtyrer“ zu werden, indem er sich bewußt der lebensunwürdigen jüdischen conditio stellt und sich frei als Jude wahlt. Oder er kann die Inauthentizität, also die Flucht vor der Wirklichkeit wählen, sich und seine Realität als Jude verleugnen. Da jede Wahl dem Juden zu seinem Nachteil gereicht, sei die Wahl der Authentizität lediglich ein „moralischer Entschluß, der dem Juden Gewißheit auf ethischer Ebene“ geben kann. Ethisch insofern, als der Jude— wie jeder Mensch - kraft seines Bewußtseins einsehen kann, „daß die Welt schlecht eingerichtet ist“’, und diese Erkenntnis in Rechnung stellend „frei“ ist, das zu tun, „was er zu tun fiir richtig halt.“? Die von Sartre unterstellte Freiheit zur Wahl ist also Voraussetzung jenes Momentes menschlichen Handelns, das durch nichts anderes als den Menschen selber begründet ist. Sie weist damit potentiell über die gegebene „schlecht eingerichtete“ Wirklichkeit hinaus. Dies transzendente Moment ist der metaphysische Charakter, den Sartre der authentischen Wahl zuspricht. Es ist die Grundlage der Sartre’schen allgemeinmenschlichen Verantwortung, die der condition humaine zugrunde liegt. Angesichts der Bedrohung durch den Antisemitismus — zumal vor dem Hintergrund der Shoah - läßt sich jedoch fragen, ob die Lage der Juden hier noch eine irgendwie geartete freie Wahl in diesem Sinne zuläßt. Jean Amerys Aufsatz Über Zwang und Unmöglichkeit Jude zu sein ist eine Reflexion auf Sartres Hypothesen der Überlegungen zur Judenfrage vor dem Hintergrund der eigenen jüdischen Opfererfahrung im Nationalsozialismus: Ich habe die Freiheit, mich als Juden zu wählen, und sie ist meine ganz persönliche und allgemein menschliche Ehre. So wird mir versichert. Habe ich sie denn aber auch wirklich? Ich glaube es nicht ... Die Dialektik der Selbstverwirklichung: zu sein der man ist, indem man zu dem wird, der man sein soll und will, sie ist fiir mich blockiert.'° Trotz dieses Einspruchs gegen die durch Sartre bescheinigte Freiheit argumentiert jedoch Améry im Folgenden ganz im Sinne Sartres’ Aussage, daß „das einzige sie [also die Juden, Anm. M.M.] verbindende Band ... die feindselige Verachtung der sie umgebenden Gesellschaften“ sei. So berichtet er, daß er ohne jedwede jüdische Religion oder gar Identität aufgewachsen sei, diese nicht für sich positiv bestimmen könne und erst durch die Todesdrohung, die er beim Lesen der Nürnberger Gesetze verspürte, seines „Judeseins“ gewahr wurde.'! Er könne sich daher stets nur in der Solidarität mit den anderen Bedrohten mit dem Judentum identifizieren.'? Woher kommt also das Unbehagen Am£rys über die Feststellung der jüdischen Freiheit zur Wahl, meint diese bei Sartre doch gerade nicht die positive Identifikation mit dem Judentum? Ein Hinweis auf die Beantwortung läßt sich im folgenden Abschnitt über die durch die Todesdrohung ausgesprochene Entwürdigung des Juden finden. Stimmt Amery hier explizit Sartre zu, daß der Jude sich durch den Antisemiten das Selbstbild aufprägen ließ, so wendet er dennoch ein, daß dieser nicht „die ganze zermalmende Pression des Antisemitismus“ beschrieben habe, die „den Juden dahin gebracht hatte“ und „sie wahrscheinlich nicht in ihrer ganzen unwiderstehlichen Gewalt erfaßte“.'? Bereits in dem Begriff der „zermalmenden Pression“ drückt sich etwas von der Erfahrung