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Thomas Wallerberger Bestandsaufnahme und Projektausblicke Der Germanist und Literaturwissenschafter Johann Holzner bespricht 1975, bei einem, nach dem Zweiten Weltkrieg erstmals stattfindenden Symposium zur Erforschung des österreichischen Fxils, Vorhandensein und Rezeption von vertriebenen SchriftstellerInnen in heimischen Schulbüchern. Das Urteil fällt nüchtern aus. Der Literaturkanon wird als regulativ und Ausschlusslogiken tradierend analysiert, die wenigen vertretenen, prominenten FxilschrifstellerInnen würden einer „vertraut, werkimmanenten Literaturauffassung“ zum Opfer fallen und außerhalb historisch-politischer Zusammenhänge und ihres Fluchtzusammenhangs diskutiert.' Zwei Generationen später und mit der Erfahrung, dass auch heute eine zwölf- oder dreizehnjahrige Schulkarriere durchlaufen werden kann, ohne das Wort Exil auch nur einmal gehört zu haben, muss diese Kritik erneuert werden. Im Deutschlehrplan der AHS Oberstufe wird das Exil planerisch unter dem Punkt „multikulturelle Bezüge“ hinter einer Klammer, zwischen Vielvölkerstaat und Migration stehend, abgehandelt. Es kommt zu einer spezifischen Konstruktion des kulturell „Eigenen“ und „Fremden“, die sich in österreichischen Schullehrplänen ganz generell nachspüren lässt. Den meist jüdischen ÖsterreicherInnen, die den Weg ins Exil antreten mussten, wird ein Platz außerhalb des Eigenen zugeordnet. Sie sind als Angehörige einer anderen, fremden Kultur anzusehen und daher im Rahmen „multikultureller Bezüge“ zu würdigen. Sie werden in der Formulierung des Lehrplans einerseits zur Tür gewiesen, andererseits eingeladen, freundlicherweise durch die Hintertür der Multikulturalität wieder einzutreten. Dass diese „kulturelle Reinheit“, entlang von staatlichen Grenzen konstruiert, letztlich Ergebnis bzw. Hinnahme der Ergebnisse des Nationalsozialismus ist, könnte gerade im Deutschunterricht demaskiert werden. Die Befassung mit AutorInnen der Zwischenkriegszeit die sich, von Roth bis Musil, teils romantisch-verklärend, oft ironisch, nicht selten kritisch mit dem transkulturellen Erbe der Donaumonarchie auseinandersetzten, könnte ein anderes Bild zeigen und der Tendenz, kulturelle Pluralität auf die Zeit vor 1918 vorzudatieren entgegen wirken. Es muss im kollektiven, kulturellen Gedächtnis Österreichs erst ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass etwa die Bukowina oder Galizien aus der österreichischen Geschichte mit den Menschen — im Nationalsozialismus ermordet und vertrieben — und nicht mit dem Verlust von Territorien als Ergebnis der Friedensverträge von Versailles und St. Germain verschwunden sind. Wenig besser ist die Situation bei den Unterrichtsmaterialien. Nach 1945 wurden Nazi-Schriftsteller wie Weinheber oder Jelusich, nach einer kurzen Phase der Ächtung, weiter in Schulbüchern abgedruckt und von tausenden SchülerInnen gelesen, selbst sechzig Jahre später taucht der eine oder andere noch in neueren Lehrbüchern auf. Hingegen werden die wenigen ExilschriftstellerInnen, die es in den Kanon schaffen, außerhalb ihres Fluchtund Exilkontextes vorgestellt und, wie beispielsweise Theodor Kramer, lange Zeit fälschlicherweise als niederösterreichischer Heimatdichter imaginiert, während die politisch-weltanschauliche Dimension seines Schaffens verschwiegen wird. Im Literatur- und Deutschunterricht werden Deutungskämpfe um den Begriff der österreichischen Nation und der Nationalstaatlichkeit umgangen und damit auch die Bemühungen um ein „anderes Österreich“. Eine Entwicklung, die, verschlungen verläuft, aber sich doch fortsetzt und durch das frühe, funktionale „Aussieben“ im Schulsystem begünstigt wird. Ab der 10. Schulstufe haben nur 20% einer Alterskohorte über den Besuch einer allgemein bildenden höheren Schule (AHS) die realistische Aussicht, in einer Institution mit Exil und Flucht konfrontiert zu werden. Natürlich ist dies auch in einer berufsbildenden höheren Schule (BHS) nicht ausgeschlossen, mit nur zwei Stunden Deutsch- und kaum Geschichteunterricht jedoch mehr als unwahrscheinlich. Im Bewusstsein der erwähnten quantitativen Einschränkung auf einen Bruchteil der SchülerInnen dieser Alterstufe, konzentriert sich eine erste Analyse trotzdem auf diesen Schultyp, ist an den Gymnasien doch noch am chesten eine Auseinandersetzung mit Flucht und Exil vorgeschen. Das Unterrichtsministerium veröffentlicht regelmäßig Schulbuchlisten mit per Bescheid approbierten Deutschlehrbüchern. In der Rubrik „Deutsch-Literaturkunde“ sind für die AHS Oberstufe sieben Lehrbücher angegeben, aus denen DeutschlehrerInnen wählen können. Sie behandeln in sehr unterschiedlicher Weise das Exil. Schnell analysiert sind davon diejenigen Bücher, die der’Ihematik keinen’, oder weniger als fünf Zeilen Platz einräumen’. Im engen Epochenkorsett, zugeschnürt mit formalen Überlegungen, kann dem Exil unter Einteilungen wie „Aufbruch in die Moderne““, „Neue Sachlichkeit und Faschismus“ oder „Naturalismus und Neue Sachlichkeit““ keine eigenständige Betrachtung eingeräumt werden, Kapitelüberschriften werden erst wieder ab 1945 an die „Irümmerliteratur“ vergeben. Mit diesem verengten Epochenbegriff geht eine starre, stilistisch-formale Einteilung von Literatur einher. So ist es méglich zwischen den ExilschriftstellerInnen Franz Werfel und Else Lasker-Schiiler einen Gottfried Benn als Vertreter einer „expressionistischen Lyrik“ anzuführen, ohne sein, zumindest anfängliches, Kokettieren mit nationalsozialistischem Gedankengut auch nur zu erwähnen.’ Es wird damit auch die Kontroverse rund um die „Innere Emigration“ und die Konflikte zwischen cxilierten SchriftstellerInnen (gegen die Gottfried Benn 1933 eine beißende Polemik verfasst) und im Dritten Reich Verbliebenen, die nicht selten nach 1945 Rückzug und stille Widerständigkeit als Schutzbehauptung vorbrachten, zugedeckt. AutorInnen werden an einigen Stellen zwar stilistisch kategorisiert und diskutiert, eine Verbindung von literarischer und außerliterarischer Realität findet allerdings nicht statt. Brecht wird für sein episches Theater gewürdigt, bei anderen die Anstrengung unternommen, ihnen einen Platz im Impressionismus, Expressionismus, Dadaismus usw. zuzuweisen. Es steht hier auch die prinzipielle Sinnhaftigkeit eines „reinen“ Literaturunterrichts zur Diskussion — Initiativen die das Exil an Schulen zum Thema machen wollen, müssten fächerübergreifend stattfinden. Obwohl ein Blick in die AHS-Oberstufenlehrpläne anderer Fächer, beispielsweise Geschichte und politische Bildung, diese Kooperationen schwierig erscheinen lässt. Flucht und Exil finden dort keine Erwähnung: Es wird lediglich vorgeschlagen April 2013 5