OCR
Lydia Mischkulnig „Nadelstiche“ Worte zur Präsentation der neuen Lyrikreihe im Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft, Wien, 24.2. 2013 Stoff und Ahnung, mit dem Anspruch auf Selbstverständnis: Hier bin Ich. Wer ist das Subjekt, und wer insistiert und hat das Recht, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben. Die Theodor Kramer Gesellschaft hat es sich zur Aufgabe gemacht, eine LyrikReihe zu eröffnen, die jährlich zwei bis vier Bände ins Licht der Öffentlichkeit rücken soll. Damit werden Zugänge zu Lebenswerken ermöglicht und dem Vergessen entrissen. Konstantin Kaiser schreibt: „Die Lyrik ist vermutlich die wichtigste Gattung für Verfolgte, Flüchtende, Exilierte, Widerstehende.“ Die Reihe widersetzt sich der „Marginalisierung der Poesie im Literaturbetrieb“. Gedichte aus dem Exil und um das Exil werden geborgen. Die Reihe „Nadelstiche“ kann heute auf Grund von Spenden ihre ersten beiden Bände präsentieren. Das Gedächtnis an die Exilforscherin und Lyrikerin Siglinde Bolbecher, die ich persönlich nicht kannte, ist gesichert und kommt einer Grundsteinlegung gleich, die mit einer ihrer Entdeckungen einhergeht, namlich der Gedichte von Trude Krakauer, aus denen heute hier noch vorgetragen wird. In der Auseinandersetzung mit den Gedichten, in der Eigenschaft als Herausgeberin, war die Hemmung der Betroffenheit zu überwinden, Texte als Material zu sichten, um Eigenheiten, Schönheiten, die herauszuarbeiten der Autorin Bolbecher nicht mehr möglich war, aufzuspüren und zur Entfaltung zu befördern, was ja immer nur ein Versuch bleiben kann. Gedichte sind Textkörper, die in aufbrecherischer Momentaufnahme, wie Konstantin Kaiser und Herbert Staud im Nachwort schreiben, anheben. „Nadelstich“, so heißt ein Gedicht und der Band Bolbechers. Die Erfahrung des Exils, von der ich keine Ahnung habe, nur diese, dass ich keine Ahnung habe, kann ich nur machen im Lesen und Hören, Kraft meiner Neugier. Und es baut sich ein Bild zusammen, das kein Bild ist, sondern ein Schwarm von Impulsen, Stiche versetzend meiner Vorstellungskraft und ein Bild vom Leben im Exil in den Kopf setzend. Es ist ein dynamischer Pointillismus, der sich aus den vielen und intensiven Lektüren der Gedichte Krakauers und Bolbechers zusammensetzt. Stiche, die ein Gewebe erzeugen, das wieder in sich zu einer lebendigen Gestalt anhebt und nie kristallin wird und kein konkretes Soundso und So ist die Nähe und die Fremderfahrung und der Identitätsverlust und die Heimat. Ich wollte ja immer weg aus der Heimat und hätte es mit Sechzehn nie verstanden, wieso eine Existenz in Bogotä Schwere erzeugen kann, noch dazu, wenn man Verfolgung und Vernichtung überlebt hat. Siglinde Bolbecher war weiter, tiefer im Verstehen und an die Grenze des Verstehens gegangen, wohin ich mich beame, wenn ich Gedichte lese und die Essays des Jean Améry und von Traumorten der Sicherheit und Menschlichkeit. Im Nachwort der Herausgeber, Staud und Kaiser, die aus den flirrenden Facetten von naher Ferne, ferner Nähe — und was ist denn überhaupt Nähe? - betonen, dass der physische Kampf für die Aufarbeitung der Geschichte des Exils den Geschichten Leben einhaucht, mit Mensch und Werk in Dialog tretend. „Nadelstich“ stehe für Rebellion, für die immer neue Auflehnung gegen Gleichförmigkeit und kulturelle Einschränkung. „Dass das Leben fragil ist, diese Binsenweisheit, hat er immer gekannt, und dass man es enden kann, wie es bei Shakespeare heißt“, wie Améry schreibt, „mit einer Nadel bloß. Dass man aber den lebenden Menschen so sehr verfleischlichen und damit im Leben schon halb und halb zum Raub des Todes machen kann, dies hat er erst durch die Tortur erfahren.“ Vor nun mehr als 17 Jahren wurde der nigerianische Dichter Ken Saro-Wiwa in einem Schauprozess hingerichtet, weil er sich gegen die Umwelt-Zerstörung durch Ölkonzerne wie Shell im Niger-Delta empörte. Die Nadel als Folterinstrument, als Tod, als Werkzeug für den, der sie zur Genauigkeit einsetzt, sticht, um freizulegen und wach zu halten den Schmerz, damit nicht geschicht, was Krakauer befürchtet, dass die Zeit alles heilt: Die Nadel der Götter ist die Zeit. „Lächelnd schaun die Götter/ aus dem zeitenlosen Blau auf ihre Mühen,/ wenn sie den tausendfach zerfetzten Erdball/ geduldig flickt und trennt und flickt und trennt.“ Wer sie führt, ist entscheidend und das Ich der Gedichte Bolbechers besagt: „Ich mag die Geschichten nicht/ wo immer was reinfällt, nachhiipft/ und daraus neu entsteht/ Die sind mir zu praktisch/ in der Verwandlung von gestocktem Blut/ in ziigiges Leben“. Das Geflecht des Vertrauens ist zart und Welt ist nicht zu nahen. Die Exilforscherin Bolbecher geht in ihren Gedichten nicht zart mit der Welt um, sie riss Welten aus der Vergessenheit. 1993 lernte sie Trude Krakauer, die 1939 aus Wien geflohen war, in Bogota kennen. Ihre Gedichte brachte sie mit und nun sind sie erschienen, gleichzeitig. Die Autorinnen verband eine lebenslängliche Freundschaft, doch davon wird Silvia Belalcäzar berichten. Das Exil-Gedicht - und ich lese Bolbechers Gedichte als solche, denn sie kreisen um eine Sehnsucht der Sicherheit, im Sinne von Heimat gegen die Ausgestoßenheit. „Das Herz und sein Ort der Freuden“, wenn sie getrennt werden, dann sind wir im „Niewiederland“ und es sind „Messer“, die die Bande kappen und auf Rückkehr lauern, um sich in den Rücken zu stoßen, so ist wieder Krakauer zu zitieren. Das Einlassen auf die Gedichte in dieser Reihe fördert eine Zerrissenheit, Aufmerksamkeit, oder schlicht: dialektisches Denken, dass es einerseits notwendig ist, den Menschen im Gedicht zu erkennen und andererseits dürfen die Sinne nicht die Metaebene verlassen, damit die Tiefe in der Form aufgeht, bevor der ästhetische Gewinn ein Wort, ein Bild, einen Gedanken absticht. Grundvoraussetzung ist: Phantasie und Lust auf Magie, bei der Inhaltlichkeit, die, je weiter sie in die Vergangenheit abrückt, gegenwärtig bleibt. Gleichzeitig. Stich für Stich, scharf und gravierend, bis die Kraft gesammelt ist, die Brücke zu beschreiten, die Trude Krakauer dank Siglinde Bolbechers Lebenswerk zu beschreiten uns schenkt. Die Lyrikreihe steht in diesem Zeichen. Meine Damen und Herren , die Bücher der Reihe wurden von Olivia Kaiser und Julian Palacz gestaltet, und sie liegen hier zum Erwerb auf. Die Beziehung zwischen Bolbecher und Krakauer werden die Gedichte zeigen, und von Dagmar Schwarz zur akustischen Erscheinung gebracht. Ich wünsche Ihnen Berührung, Stich für Stich, Punkt für Punkt, das Funkeln der Sterne, Menschenwerk: Gedicht. Lydia Mischkulnig, geb. 1963 in Klagenfurt/Celovec, Autorin, Lehrbeauftragte am Institut für Sprachkunst der Universität für Angewandte Kunst in Wien, veröffentliche zuletzt den Erzählband „Macht euch keine Sorgen“ (Innsbruck: Haymon 2009) und den Roman „Schwestern der Angst“ (Innsbruck: Haymon: 2010). April 2013 7