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Mardijah Simpson „Mein erster Dichter“ Ein fiktiver Brief an Theodor Kramer Schr geehrter Herr Kramer, es tut mir leid, dass ich Ihnen nie einen Brief geschrieben habe. Es war mir nie in den Sinn gekommen, dass Sie gern Post bekommen hätten, aber dann las ich Ihr Gedicht Schulschluß in der Bücherei Nun wird es stiller in der Bücherei; nur manchmal, während ich mir nach der Reih die Bände ordne und ins Fach sie rück, kommt ein Student noch, bringt ein Buch zurück. So manche haben hier mich gern geschn, die nun von hier hinaus ins Leben gehn. Sie alle fanden bei mir Gastlichkeit, gab ihnen mehr als nur von meiner Zeit, empfahl manch Buch, das nicht im Lehrplan war. Was wird aus ihnen werden übers Jahr ? Vielleicht, daß mir von ihnen einer schreibt, wie's ihm ergeht. Ich aber bin, der bleibt für sie, die kommen, der zu jeder Frist hier wie ein Buch für sie zu finden ist, worin man nachschlägt; und es wird von mir, gch ich einst, etwas noch verweilen hier. Fünfzig Jahre sind seitdem vergangen, und ich entdecke ständig Neues. 1996 — mein Mann war gestorben, und meine fünf Kinder waren erwachsen — ergab es sich, dass ich im „roten Herzen Australiens“ lebte. Endlich hatte ich Zeit, mich aufs Schreiben und auf Kunst zu konzentieren. Die Worte begannen zu fließen, Gedichte blühten auf. Es war wie ein Geschenk. Ich dachte über diese für mich neue Erfahrung nach. Dann fielen Sie mir ein, der Dichter, den ich vor langer Zeit als junge Kunststudentin in England kennengelernt hatte. Ich sah im Internet nach — in der Hoffnung, man würde sich an Sie und Ihr Werk erinnern. Ich fand nichts. Und so schrieb ich Ihnen das Gedicht „Mein erster Dichter“ - in dem ich alles auflistete, woran ich ® mich zu meiner Freundschaft mit © Ihnen erinnerte. ’ Im letzten Jahr, als ich Pläne mach- | te, nach Europa zu fahren, fielen Sie mir unerklärlicherweise wieder ein, und ich suchte wieder nach Ihnen im überrascht — so viel war in den zwölf Jahren, seit ich zuerst nach Ihnen im Internet gesucht hatte, geschehen. Sie waren nun wiederentdeckt worden und wurden gefeiert. Ich erfuhr von Ihrem weitreichenden Ruf als Dichter. So beschloss ich, meine Reisepläne zu erweitern und Wien mit einzubeziehen. Ich hatte das Gefühl, ich müsste Ihre Stadt besuchen und „Danke“ und „Auf Wiedersehen“ sagen. Es war schr bewegend für mich. Ich fand englischsprachigen Lesestoff über Sie im Internet. Das machte mich nachdenklich. Es tut mir leid, dass ich so gar nichts von Ihren leidvollen Erfahrungen und den Grausamkeiten der Geschichte wusste. Es tut mir so leid, dass ich noch nicht einmal wusste, dass Sie Österreicher waren und nicht Deutscher. Nach dem Krieg wuchsen Kinder in England schr beschützt auf. Und ich verstand nicht, wie eine ganze kulturelle Welt und Freundschaften zerstört werden konnten. Ich war schockiert, als ich das jüdische Denkmal in Wien besuchte. So viele Menschen verloren! Worüber könnte ich noch über diese lange vergangenen Tage sprechen? Die Technische Hochschule in Guildford war ein ganz besonderer Ort für mich. Erinnern Sie sich, dass sie in einem weitläufigen Parkgelände lag? (Stoke Park, glaube ich.) Haben Sie die Pfauenrufe gehört und die Pfaue hoch und frei zwischen den großen Baumgruppen hindurchfliegen schen? Auf der ganzen westlichen Seite des Gebäudekomplexes war die Kunstschule untergebracht, direkt neben dem Schwimmbad, wo wir Studenten uns gegenseitig mit Wasser bespritzten und flirteten. Nein — ich glaube nicht, dass Sie ein Schwimmer waren. Wir hatten unsere eigenen Ateliers und Lehrer und unsere eigene Kunstschulbibliothek, teilten aber die Benutzung der Cafeteria mit all den anderen Studenten. Die Kunstschule hatte eine große Grafik-Abteilung und eine Fotografie-Abteilung. Jenes Foto von Ihnen wurde dort aufgenommen. Ich selber wurde dort von einem Freund abgelichtet. Alle unsere Lehrer waren praktizierende Künstler, Maler, Bühnenbildner, Kalligraphen, Drucker, Keramiker, Bildhauer, Weber, Modedesigner. Hier, in dieser Umgebung hörte ich erstmals vom „Bauhaus“ und seinem erstaunlichen Einfluss auf modernes Design. ben) April 2013 19