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Tuvia Rübner Wunderbare Welt Neue Gedichte Er war Er war siebzehn, ein kurdischer Flüchtling, er hieß Bilal Bisda. Er hatte, weiß-Gott-wie, Calais erreicht. Er wurde gefangen, verurteilt, freigelassen, weil er aus einem Kriegsland kam. Er wollte aber weiter, nach London, dort wartete seine Geliebte. Verborgen auf einem Laster nach Dover. Man fing ihn. Zurück nach Calais. Kein anderer Weg als Schwimmen. Er nahm Schwimmstunden, lernte schwimmen. Im Winter den La Manche Kanal durchschwimmen? Irrsinnig. Einfach irrsinnig. Ein Kümo zog ihn halbohnmächtig aus dem Wasser. Abelard, Abelard, Heloise fleht, rasch, rasch, ihr Vater will sie einem anderen geben, Abelard. Wiederum schwimmt Bilal. Irreal, total irreal in den wilden Wellen des Winters zu schwimmen. Wahnsinnig der Schmerz im ungebändigten La Manche Kanal. Man sichtet ihn, er taucht, sichtet ihn wieder, er taucht in die Tiefe, 800 Meter von der britischen Küste entfernt — unglaublich. In einem Plastiksack nach Calais gebracht, wird da begraben. Der Schmerz durchbrach den LCD, breitet sich im Zimmer aus, Vergessenes unvergessen wird wach, der Greis sitzt — seine Augen füllen sich mit Salz - in sich versunken. Regen Ich erwachte mit umnebeltem Kopf, ein wenig schwindlig: „Schreib doch ein Gedicht für oder gegen mich“, sagte er, „vielleicht klärt sichs mir aufund ich finde mein Gleichgewichtwieder.“ Mir fällt nichts zu schreiben ein, sagte ich. Lass das sein. „Hörtest du nicht, dass es heute regnen wird“, sagte er. Der Himmel ist nur zur Hälfte grau, zur anderen hell und sonnig. „Und sahst du nicht, dass die Bachstelze schon da ist mit der hellblauen Weste, und die Stare sind auch hier und treiben in Scharen den Himmel zur Eile an?“ Ja, ja, sagte ich, Duft von Regen in der Luft. Die Amsel trillert Koloraturen wie die Königin der Nacht (in der Zauberflöte) und ihr Trillern rollt schwarze Wolken von Westen nach Osten und schon klopfen die ersten Tropfen auf den steinharten Boden wie an die Tür eines Siebenschläfers, und die Tropfen sind schon keine Tropfen sondern Schnüre winziger Perlen, die hängen in der graufarbenen Luft und schimmern in letztem Glanz, und jäh ein Donnerschlag wie Brüllen einer hinjagenden Büffelherde über die Prärieen des Himmels. 24 ZWISCHENWELT Kein Vogel ist zu hören, denn eine Wolke brach und Sturzregen fällt wie ein Berg der plötzlich in sich stürzt, als wäre die Höhe offener Abgrund. Ach, was Gedicht, das ganze Land ist „einerlei Sprach‘. Meinem Freund Du sagtest, ich möchte noch vierzig Jahre leben. Ich sagte, ja, warum nicht? Ich mach's mit. Du bist 77, ich 88, weshalb uns trennen? Wir sind doch Freunde und was macht nicht ein Freund dem anderen zuliebe? Aber lass uns zerstreut leben, auf nichts fokussiert. — Jeder Punkt ist doch Tod. Wir wollen uns in den Blättern verstreuen, sind sie reglos oder schwanken sie, in den Vögeln, bei Sonne und Regen, mit den Wolken ziehen, besonders den durchsichtig weißen. Fast vergaßen wir unsere Schmerzen und erinnern uns an die Stunden der Freude. Wir wollen wehen mit dem Wind, Dünen verschieben, entschwunden all das Entsetzen ins Meer tauchen, unsere Augen wenden zu all dem, das sich lohnt unsere Augen hinzuwenden. Wir wollen lieben wie wir nie noch geliebt haben, bei Rutenberg essen, weil sein Lob in aller Mund ist, St. Emilion premier cru, 1924 trinken oder nach deiner Wahl. Wir machen ein Leben, wie heißt es?, ein meschuggenes. Warum auch nicht? Es gibt doch auch allerlei Erfreuliches in dieser Welt. Weshalb also eine andere? Wunderbare Welt Findest du selbst tausend Gründe mir zu widersprechen — die Welt ist wunderbar. Du sagst: man wird geboren um zu sterben — wie niederträchtig! Doch bis dahin, ist denn die Welt nicht wunderbar? Wunderbar wie vieles sie enthüllt und wie vieles sie verbirgt, wunderbar wie sie Tag zeugt nach Tag und Nacht nach Nacht erbleichen lässt, wenn frühmorgens die Sonne die dünne Haut des Morgengrauens durchschneidet und in der Abenddämmerung mit blutigen Farben spielt. Wunderbar, dass du am Morgen lebend erwachst und wunderbar dass dein Körper dieses Alter erreicht hat. Wunderbar wie die Zähne des Raubtiers und das Fleisch des Opfers harmonisieren und Segen und Fluch sich umarmen! Sahst du wie der Marienkäfer bis zur Spitze der Meerzwiebel