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hielt ich es für eine Einbildung. Aber nein, ich hörte die Stimme wiederholt und deutlich: „Frau Sonne, nimm es! Schau her! Schau her!“ Die Stimme war ohne Zweifel real. Ich schaute in die Richtung. Schließlich fiel mein Blick auf das geöffnete Fenster eines Hauses gegenüber. Überrascht gewahrte ich das freundliche Lächeln eines Mannes, der am Fenster stand. Er hielt ein weißes Taschentuch in der Hand und wollte es mir zuwerfen. Das Tuch war aber nicht leer. Wie gut und wie schnell ich dieses Gesicht erkannte! Es war Fereydoun Farrokhzad, der namhafte Künstler aus der „Silbernen Nelke“, einem damals in im Iran viel geschenen Fernsehprogramm. Erstaunt fragte ich mich, warum er mich mit „Frau Sonne“ angesprochen hatte. Kannte er mich? Sonst nannten mich nur meine Großmutter und der Professor „Frau Sonne“. Ich hörte wieder seine warme Stimme: „Lass es nicht zu Boden fallen! Ich werfe es jetzt. Fang!“ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Die Schüchternheit färbte meine Wangen rosarot. Zaghaft hob ich beide Hände zu ihm empor. Die Entfernung zum Fenster, aus dem er sich beugte, schätzte ich auf etwa drei Meter. Das Taschentuch samt seinem Inhalt flog durch die Luft und landete genau in meinen Händen. Ich wollte den Mund öffnen und etwas sagen, aber der liebenswürdige Mann verschwand lächelnd aus dem Fenster: „Frau Sonne! Scheine immer!“ Ich begriff nicht gleich, was er mit diesem Satz sagen wollte. Ich schaute auf meine Uhr, um rechtzeitig ins Haus des Professors zu kommen. Ich hatte noch drei Minuten. Ich eilte an der Katzenfamilie vorbei, die nun ruhig im Schatten des Baumes lag. Nicht einmal der Lärm meiner Schritte ließ sie aufschrecken. Alles war so rasch geschehen, wie im Traum. Doch es war kein "Traum. Es war real. Ich hielt das Tuch samt seinem Inhalt in der Hand. Mit den Fingerspitzen lüftete ich vorsichtig das Tuch. Ein großer grüner Apfel wurde sichtbar. Unwillkürlich führte ich ihn an meine Nase und roch den Duft aller reifen Äpfel der Welt. Der stimmte mich heiter. Der Professor öffnete mir freundlich die Tür. Die Freunde waren vor mir da. An diesem Tag hat jeder von uns ein Stück von diesem Apfel bekommen. Das weiße Taschentuch aber, das noch nach der Frucht und den Händen Fereydouns duftete, barg ich in der Tasche meines grünen Kleides und legte es am Abend zuhause in eine kleine Schachtel. Hie und da öffne ich sie noch heute und denke an das offene und liebenswerte Gesicht des Künstlers. Es vergingen einige Jahre. Der Verlauf der katastrophalen Revolution des Jahres 1979 im Iran hatte für uns Freunde Trennungen mit sich gebracht. Einer nach dem anderen war aus meinem Gesichtskreis entschwunden. Die Saat unserer Jugend ging in unfruchtbaren Salzwüsten auf. Kurz bevor ich in die Fremde gezwungen wurde, bat ich die Freunde bei unserem letzten Treffen, auf das weiße Tuch etwas als Andenken zu schreiben. Seit 32 Jahren bewahre ich die kleine Schachtel wie ein Kleinod auf. Sie hat für mich den anziehenden Duft aller Gärten der Welt. 1991 drehte der iranisch-österreichische Regisseur Dr. Houshang Allahyari den Film „I Love Vienna“ mit Fereydoun Farrokhzad in der Hauptrolle. Bei der Premiere waren die Schauspieler anwesend. Fereydoun Farrokhzad strahlte im Umkreis seiner Freunde. Ich stand in einer Ecke und blickte voll Anteilnahme zu ihm hin. Plötzlich sah er mich an und kam lächelnd auf mich zu. „Hallo Mädchen! Wie schr mich deine Augen an meine Schwester Forough erinnern! „— „Hallo! Meinst du mich oder nur meine Augen?“ Er wurde nachdenklich, betrachtete mich nachdenlich und sagte: „Ja, dich habe ich gemeint! Dich, Frau Sonne! Es war mir, als ob meine Schwester Forough wieder vor mir stünde.“ Was für ein Gedächtnis er hatte! Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Flüsternd antwortete ich: „Ich bin die Sonne an der Schwelle der Abenddämmerung.“ Und daraufer: „Spaße nicht, Mädchen! Die Abenddämmerung ist noch weit weg von dir!“ Im September 1992, als sich die Nachricht von dem auf ihn verübten Attentat verbreitete und seine Freunde und Fans in Trauer versetzte, beeilte ich mich, ihn am Friedhof in Bonn zu besuchen. Die kleine Schachtel hatte ich bei mir. Ich begrüßte Fereydoun und öffnete die Schachtel. Meine Tränen regneten auf das weiße Tuch. Da stand der edle Fereydoun Farrokhzad neben mir und Hüsterte: „Möge die Zeit der Tyrannei enden und die Sonne aufgehen, und möge der Blitz der Wahrheit das Volk erhellen. Die Liebe ist das Morgenrot, nach dem wir streben. Aus Liebe wurde ich zur Welt gebracht. In Liebe habe ich gelebt und in Liebe gehe ich hinüber, auf daß das, was von mir bleibt, Liebe sei.“ Von Nahid Bagheri-Goldschmied ist im Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft 2009 der Roman „Chawar“ erschienen. In ZW Nr. 3/2012 erschienen drei von ihr übersetzte Gedichte Pouran Farrokhzads, der älteren Schwester Fereydouns. Forough Farrokhzad, die andere Schwester, eine bedeutende Lyrikerin und bekannte Schauspielerin, starb 32-jährig bei einem Autounfall. April 2013 29