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Erkennungssignal, das uns, von Jesus bis Joyce, all denen ähnlich macht, die sich auf ihre eigenen Erkenntnisse besonnen haben.” Zur selben Zeit erschien auch die erste Ausgabe der Zeitschrift La dictature Lettriste. Die Buchhandlung Librairie de la Porte Latine sollte bald die Zentrale der Lettristen werden, wo dann auch lettristische Malerei ausgestellt wurde. Der Lettrismus wollte weit mehr, als eine literarische oder künstlerische Strömung sein. Alleine Isidore Isous lettristisches Werk umfasst neben den Gedichten Arbeiten über Musik, Literaturwissenschaft, Ökonomie, Medizin, Psychologie, Physik, auch Filme, darunter der schon erwähnte, zwei Stunden lange Traite. Ganze Bücher wurden darüber geschrieben, wenngleich in den letzten Jahren hauptsächlich nur noch in den USA. Poesie für eine société paradisiaque Da es in dieser Ausgabe der ZW in erster Linie um Poesie geht, möchte ich mich nun auf jene Isous konzentrieren. Das im Jahr 1947 publizierte Gedicht Schreie für fünf Millionen ermordete Juden’® (Abb. 1) zeigt, dass es sich zwar um, grob gesagt, Lautdichtung handelt, diese jedoch nichts mit Dada zu tun hat. Das lettristische Gedicht ist in einer Entwicklungsgeschichte zu verstehen, die Isidore Isou so beschreibt: Baudelaire habe das Erzählen zugunsten der Form aufgegeben, Verlaine das Gedicht um des Verses Willen, Rimbaud den Vers um des Wortes Willen zerstört, Mallarme das Wort arrangiert und zur Perfektion gebracht, Tzara das Wort für das Nichts zerstört, Isou schließlich arrangiere das Nichts, den Buchstaben, um die Erzählung zu schaffen.” Es geht also um Buchstaben, die erzählen, um Laute, die durch das Gedicht eine Aussage finden. Und Erzählen heißt durchaus konkret politisch Stellung zum aktuellen Geschehen nehmen. Laut, Rhythmus und ein neu gefundener Kontext, getrennt von Wort und Satz, aber nicht von Inhalt, nicht von Aussage, das ist die lettristische Poesie. Verschiedene Sprachen scheinen in der Silbenfolge nicht nur auferstehen zu können, sie werden auch verständlich, werden zum Schrei, zum Gebell, so wie sich die Befehle der SS im Lager angehört haben müssen, für die, die nicht Deutsch sprachen, so wie sich das Reden der Mithäftlinge angehört haben muss, die aus anderen Ländern kamen, so wie sich das alles angehört haben muss, das man nicht verstand und doch verstehen musste, um zu überleben. Doch was im Bösen funktioniert, das kann auch im Guten funktionieren, geht es doch um den Kontext, in dem etwas geschicht. Hundegebell in einem Konzert ist eine andere Welt als Hundegebell bei der „Selektion“, trotzdem bleibt es Hundegebell. Das Filmschaffen Isous ist ähnlich zu betrachten, die geforderte Trennung von Bild und Ton, bzw. deren Zusammenhanglosigkeit sollte nicht nur die künstlerische Ausdruckskraft eines Kunstwerks multiplizieren, sondern vor allem auch zeigen, dass der Laut und das Geschehen, das Hören und das Schen, jeweils in einen neuen Zusammenhang gebracht, eine neue Realität - durchaus auch eine fortschrittliche - schaffen können. Vom künstlerischen Schaffen ausgehend, vom Gedicht, von der Musik, vom Film, wandten Isou und die Lettristen diese Methode auch auf die Ökonomie, die Soziologie, die Psychologie, die Physik bzw. auf alle Felder menschlicher Tätigkeit an. Isidore Isou sah seine Dichtung, sein geistiges Schaffen dort, wo für die neue Welt, mit ihren Ereignissen, ihren Problemen, ihrer Geschichte, ihrer Gewalt, ihren Hoffnungen, eine neue, 40 ZWISCHENWELT adäquate, eindringliche Ausdrucksform gefunden werden musste. Dazu gehörte die Konfrontation mit Auschwitz genauso wie das Denken und Handeln nach Auschwitz. In diesem Zusammenhang definierte der „Messias“ 1950 aber auch die Rolle des Dichters, der Dichterin: Das Problem der Freiheit des Dichters besteht schon seit den Bücklingen von Moliere, Racine & Co., die sich am Hof des Sonnenkönigs um eine Stelle rissen. Ich mag die Dichter nicht, weil ihr Beruf Vorwand für Faulenzerei ist. Weil sie wenig arbeiten, sind sie arm, deshalb verbittert, dreckig. Die Dichtung ist keine Entschuldigung dafür, sich an Wörtern zu berauschen. Weil die Dichtung ein Luxus ist, sollte sie das Werk luxuriöser Leute sein. (Ich schreibe noch immer sehr wenige Gedichte — nur einige lange, meisterhafte Stücke — weil diese Kunst einfach nicht genug Kohle einbringt.) Am Ende haben Mallarme und Baudelaire nicht mehr geschrieben. Nur Deppen wie Breton verbringen ihr Leben damit, eine einzigartige Erfahrung zu einem Pappmaché von Tausenden Seiten zu vermanschen.” Für Maurice Lemaitre besteht die Rolle der lettristischen Poesie, im Kontext einer Erneuerung des menschlichen Denkens und Handels, im Glauben an ein Handeln im Sinne eines Fortschritts, darin, dass alle vom Menschen produzier- und reproduzierbaren Töne, wie z.B. das scheinbar unbedeutende Schnalzen mit der Zunge oder das Rülpsen, Instrument dichterischer Erzeugung, sowie Kreativität im weitesten Sinne sein können, sein müssen.” Die Lettristen wollten freilich auch auffallen, wollten bedeutend sein, und das, nachdem sie als jüdische Verfolgte vor einigen Jahren „nichts“ und niemand gewesen waren, wollten Bedeutsames tun und die Helden der Außenseiter sein, und für manche, wie Georg Stefan Troller, wurden sie es irgendwie auch, gerade auch im Kontext des alltäglichen Antisemitismus, wie Stefan Ripplinger beschreibt: Im Handumdrehen ist aus des jungen Juden Kampf um seinen Platz in der französischen Gesellschaft ein großer Aufstand der Außenseiter geworden. Auch was sein anderes Ausschlufßmerkmal beiriffi— das, als „salejuif“ geächtet zu werden— erweitert er bloß lässig die Vokabel: „Ich nenne ‚Jude‘ einen jeden, der zum Fortschritt in der Welt beiträgt.’ Am Ende des Weges und der Bemühungen, die Form der Welt neu zu erfassen, sollte eine societe paradisiaque stehen, eine Gesellschaft, die es endlich geschafft hat, aus den Gedankengefängnissen auszubrechen, um dem Glück eine neue Form zu geben. Prozess Doch bevor dieses Paradies, dank lettristischer Methode, verwirklicht werden konnte, verschwand der Lettrismus aus der öffentlichen Wahrnehmung. Er überlebt bis heute mit jenen, die ihn weiter getragen, weiter ihre Bücher und Filme und Ideen produziert haben, im Stillen bzw. im Schatten des Situationismus und der vielen anderen Avantgarde-Bewegungen nach 1945. Pomerand nahm sich 1972 das Leben, Debord 1994. Isidore Isou starb am 28. Juli 2007 in einer Wohnung voller Bücher, betreut von zwei, drei Aposteln, umgeben von seinen Skulpturen. Er starb, dreißig Jahre nachdem er sein 1941 begonnenes Lebenswerk, die alles umfassende und erklärende Schrift Za Creatique ou la Novatique’*, beendet hatte. Michael Lentz besuchte den „megalomanen, den alles-und-die-welt-erneuerungs-maniac“ 1999 in seiner Wohnung, um ihn zu interviewen. Er berichtet: