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weil ihm gehen völlig unmöglich geworden ist, verlafst er die wohnung außer zu hospitalbesuchen so gut wie überhaupt nicht mehr. so sitzt er also tagtäglich die meiste zeit vorm fenster an seinem winzigen schreibtisch, liest unentwegt und schreibt immer noch tausende seiten. linkerhand steht ein telefon. durchwahl geheimsache. er versichert aber, tagtäglich mit leibhaftigen menschen zu telefonieren.” Nur Maurice Lemaitre lebt noch, inzwischen für seine Dichtkunst, seine bildende Kunst und seine Filme allen „Insidern“ der Welt bekannt. Für all jene, die nun auf den Geschmack gekommen sind und mehr über den Lettrismus erfahren wollen, sei empfohlen sich Traite®, 2008 restauriert auf DVD erschienen, anzuschauen und die Augabe Nr. 78 vom Februar 2012 von der von Norbert Wehr herausgegebenen Literaturzeitschrift Schreibheft, mit dem ausführlichen Schwerpunkt Isidore Isou — Die Zeichen des Messias, mit Gedichten und Texten des Lettristen und Beiträgen von Eric Rohmer, Stan Brakhage, Michael Lentz zu bestellen. Und wer einen kurzen Eindruck der Inszenierung der Gedichttöne der Lettristen bekommen will, kann sich auch im Internet (auf YouTube) Orson Welles’ Reportage St.-Germain-des-Prés', ausgestrahlt am 18. November 1955, aus seiner sechsteiligen Serie Around the World with Orson Welles fiir den britischen TV-Sender ITV, anschauen. Orson Welles ist beim Interviewen der jungen Messiasse der rive gauche leicht irritiert, so als würde er denken: „An was für Verrückte bin ich da wohl geraten, wird das der Sender schlucken, ist das Licht des Scheinwerfers zu grell?“ (siche Abb. 2). Und weil die Welt so klein ist, wird rund fünf Jahre später Georg Stefan Troller, inzwischen TV-Journalist und Paris-Korrespondent beim Südwestfunk, Orson Welles interviewen?”, und zwar im leer stehenden Bahnhof d’Orsay bei den Dreharbeiten zu Kafkas Prozess, einer Geschichte über das Gesetz 4 la lettre, einer lettre, die keiner versteht, die jeder kennt, die nur Gewalt ist und Isidore Isou in seinem Traite in die Straßen von St.-Germain-des-Pres ausrufen lässt: ... tout individu, innocent ou coupable, anti-communiste ou communiste, qui ne sattend pas de mourir d'une mort violente, fusilié ou en prison, est un imbécile! Personne west plus maitre de son destin aujourd huik? Anmerkungen 1 Biene Baumeister Zwi Negator: „Situationistische Revolutionstheorie“ — Communistische Aktualität und linke Verblendung. In Stephan Grigat u.a. (Hg.): Spektakel - Kunst — Gesellschaft. Guy Debord und die Situationistische Internationale. Berlin 2006, 31. 2 John Neubauer, Borbdla Zsuzsanna Torok: The Exile and Return of Writers from East-Central Europe: A Compendium. Berlin 2009, 78. 3 Anselm Jappe: Guy Debord. Marseille 1995. 4 Georg Stefan Troller: Selbstbeschreibung. Diisseldorf 2009, 288. 5 Ebenda, 286. 6 Ebenda 288. 7 Gerhard Scheit u.a (Hg.): Orpheus im Exil. Die Vertreibung der österreichischen Musik von 1938 bis 1945. Wien 1995. 250f. 8 Diedrich Diedrichsen: Der Sprung aus der Geschichte und seine Geschichte. In Elisabeth Großegger u.a.: Teststrecke Kunst. Wiener Avantgarde nach 1945. Wien 2012. 300. 9 Albrecht Betz: In Frankreich bisweilen, in Frankreich konstant. Hanns Eisler und Max Deutsch. In: Michel Cullin, Primavera Driessen Gruber (Hg.): Douce France? Musik-Exil in Frankreich/Musiciens en Exil en France 1933-1945. Wien 2008, 95-107. 10 Stan Brakhage: Brief über einen Film von Isidore Isou. Boulder (Colorado), 21. Juni 1993. In: Schreibheft. Zeitschrift für Literatur. Nr. 78, Februar 2012, 104. 11 Gespräch mit Maria Fialik (1998), zit. in: Schreibheft. Zeitschrift für Literatur. Nr. 78, Februar 2012. 45. 12 Robert Schindel, in: Gerald Leitner: „Was wird das Ausland dazu sagen?“ Literatur und Republik Österreich nach 1945. Wien 1995, 47. 13 Konstantin Kaiser: Ohnmacht und Empörung. Wien 2008, 321. 14 Gerhard Rühm: Die Wiener Gruppe. Texte. Achleitner, Artmann, Bayer, Rühm, Wiener. Gemeinschaftsarbeiten. Aktionen. Wien 1985, 9. 15 Stefan Ripplinger: Mundomanie. Eine Einführung in das Denken von Isidore Isou. In: Schreibheft. Zeitschrift für Literatur. Nr. 78, Februar 2012, 23. 16 Isidore Isou: Ludo oder die Perfektionierung der Unsterblichkeit. In: Schreibheft. Zeitschrift für Literatur. Nr. 78, Februar 2012, 17. 17 Encyclopaedia Judaica (1. Auflage). New York 1971. Band 4, 1271f. www.geschichteinchronologie.ch/eu/rumaenien/EncJud_juden-in-BotosaniENGL.html. 18 Isidore Isou: Ludo, wie Anm. 16, S. 16. 19 Isidore Isou: Der Lettrismus ist eine Idee, die man durch ihren Ruf hinausposaunen kann. In: Schreibheft. Zeitschrift fiir Literatur. Nr. 78, Februar 2012, 38. 20 Gabriel Pomerand. www.lelettrisme.com/pages/03_createurs/pomerand. php (22.3.2013). 21 Christophe Wall-Romana: Cinepoetry: Imaginary Cinemas in French Poetry. Bronx 2013, 225. 22 Isidore Isou: Die praktische Haltung von Isou, wie sie aus dem Gegensatz zwischen Größe seines Werkes und der üblichen Langsamkeit von dessen Verbreitung erwächst. In: Schreibheft. Zeitschrift für Literatur. Nr. 78, Februar 2012, 63. 23 Isidore Isou: Introduction a une nouvelle poésie et 4 une nouvelle musique. Paris 1947, 326f. 24 Ebenda, 43. 25 Isidore Isou: Die praktische Haltung von Isou.., 68. 26 Maurice Lemaitre: Qu’est-ce que le Lettrisme? Paris 1954, 15. 27 Stefan Ripplinger, wie Anm. 15, S. 25. 28 Isidore Isou: Créatique ou la Novatique 1941 — 1976. Paris 2004. 29 Michael Lentz: Es war einmal... il était une fois... Besuche bei Isidore Isou. In: Schreibheft. Zeitschrift fiir Literatur. Nr. 78, Februar 2012, 107. 30 (Mit englischen Untertiteln) zu bestellen bei: http://lightcone.org/en/ video-623 1 -traite-de-bave-et-d-eternite. 31 Orson Welles‘ Interview — featuring Isidore Isou Lettrism: http://www. youtube.com/watch?v=uZayMaC4RLo. 32 Georg Stefan Troller: Lebensgeschichten. Düsseldorf 2007, 72. 33 Jeder Einzelne, unschuldig oder schuldig, Antikommunist oder Kommunist, der sich nicht gewärtig ist, eines gewaltsamen Todes zu sterben, erschossen oder im Kerker, ist ein Trottel! Niemand ist heute mehr Herr seines Schicksales! (Eigene Übersetzung). April 2013 41