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Paul Burmetz Die Nacht hinter uns Flucht in die Schweiz Bereits 1961 erschien Isidor Hellers (1906- 1973) Buch „Our Share of Morning“ unter dem Pseudonym Paul Burmetz bei Doubleday in New York. Nun liegt erstmals eine deutsche Ubersetzung vor. Im August 1939 waren Paul Burmetz und seine Frau Alice (wie Karoline Heller, geb. Freudmann, im Buch genannt wird) mit ihrer einjährigen Tochter Mignon (eigentlich Nora), die wegen einer Hüftluxation einen Gips tragen musste, aus Wien nach Frankreich geflüchtet. Noch in Wien hatten sie ein Visum für die USA beantragt. Nach Kriegsausbruch wurde Paul Burmetz 1940 als „feindlicher Ausländer“ wie so viele andere in einem Lager außerhalb von Paris interniert und knapp vor dem Einmarsch der deutschen Truppen nach Albi verlegt. Seine Frau konnte mit Mignon mit dem letzten Zug von Paris in den Süden flüchten; aufgrund eines schon in Paris ausgeklügelten Benachrichtigungssystems fand die Familie in Albi wieder zusammen. Wie die Stadtverwaltung von Albi sich um die Flüchtlinge aus dem Norden kümmerte, zeigt der folgende Ausschnitt, in dem der Autor schildert, wie seine Familie in ein von der Stadtverwaltung requiriertes Häuschen einzieht. Bei der Stadtverwaltung sagte ich, dass wir das Häuschen unbedingt nehmen wollten, vorausgesetzt, drei Probleme würden geregelt. Als erstes fehlte dort jegliche sanitäre Anlage. Ich würde eine errichten, vorausgesetzt ich bekäme die Erlaubnis, Baumaterial zu kaufen. Zweitens gab es nicht einen einzigen Einrichtungsgegenstand, und ich würde die Erlaubnis brauchen, das Nötige zu beschaffen. Und drittens gab es kein Licht, daher sei die Erlaubnis für fortwährenden Bezug von Kerzen oder Öl vonnöten. Sie versprachen, sich der letzten beiden Themen anzunehmen, wiesen das erste aber als völlig unerheblich zurück. „Das Häuschen steht draußen am Land, wozu brauchen Sie dort Sanitäreinrichtungen?“, fragte der junge Mann. „Sie haben die komplette Umgebung. Ist Ihnen die nicht groß genug?“ „Das ist es ja“, sagte ich, „sie ist zu groß.“ Die Diskussion ging hin und her, aber wir konnten uns nicht einigen. So verblieben wir, dass ich in einer Woche wiederkommen solle und sie würden sehen, was sich in Sachen Licht und Möbel machen ließe. Inzwischen war Alice schon vollkommen darauf eingestellt, dass wir in den Weingarten übersiedeln würden, während ich versuchte, ihren Optimismus zu dämpfen. „Ich kann mir nicht vorstellen“, sagte ich ihr, „wie wir hier auch nur ein einziges Möbelstück auftreiben können sollten.“ „Ich bin sicher“, antwortete Alice, „die Stadtverwaltung wird uns die nötige Erlaubnis erteilen.“ „Vielleicht. Aber das wäre dann nur ein Stück Papier. Wir aber müssten immer noch das Möbelgeschäft finden, das etwas zu verkaufen hat. Das allermindeste, was wir brauchen, sind Betten.“ „Ich würde lieber dort am Boden schlafen, als weiterhin in diesem winzigen Zimmerchen zu bleiben“, sagte Alice. „Gut, dann brauchen wir wenigstens Matratzen und Decken. Aber all das war letzten September schon ausverkauft. Wir werden auch kein Holz für die Feuerstelle bekommen. Vergiss nicht, dort gibt es keinen Gasherd.“ 42 ZWISCHENWELT Ich war skeptisch, doch Alice war weiterhin optimistisch. Bei unserem nächsten Sonntagsausflug lenkten wir unsere Schritte fast automatisch zu „unserem“ Häuschen. „Ist es das wirklich?“ „Es sieht so aus. Aber was ist das?“ Das Tor wurde von einem Stapel Bauholz blockiert, neues Bauholz, das bei unserem ersten Besuch nicht dort gewesen war. Das ist das Baumaterial, schoss mir durch den Kopf. Ich hatte nur um Erlaubnis für den Einkauf gebeten, sie aber hatten gleich das Material geschickt, fertig vor die Tür geliefert. Wir waren fasziniert. „Und was ist das?“ Gleich hinter dem Tor stand ein neuer Strommast. Wir spähten hinauf. Kabel liefen vom Mast zum Häuschen mitten in den Garten. „Strom! Sie haben Strom eingeleitet!“ Da wir nicht durchs Tor konnten, ging ich zum Nachbargarten, um alles näher in Augenschein zu nehmen. Der Mann, der dort lebte, kam heraus und erzählte, dass einige Leute von der Stromversorgung den ganzen Tag und den ganzen Vortag gearbeitet hatten. Schon am nächsten Tag „nahmen“ wir das Häuschen. Die Besitzer waren glücklich, jetzt, da ihr Eigentum kostenlos verbessert worden war. Während ich damit beschäftigt war, das Holz vom Eingang wegzuschaffen, brachte ein kleiner Lastwagen die nächste Überraschung: Die Stadtverwaltung schickte uns Einrichtung. Ein Tisch, Sessel, Feldbetten, Matratzen, Decken, alles nagelneu. Und später brachten zwei Männer noch ein Geschenk von der Stadtverwaltung: einen fabrikneuen Küchenherd, den sie uns auch gleich installierten. Eine Woche später zogen wir in unseres neues Heim. Jedes einzelne Einrichtungsstück hatte die Stadtverwaltung gestellt. Und da das Objekt „requiriert“ war, zahlte die Stadt sogar die Miete. Früher, vor allem in Österreich, hatte ich über die Franzosen viel Abschätziges gehört. Angeblich waren sie liederlich, nachlässig, faul und hatten keinerlei Organisationstalent. Welch himmelhoher Unterschied zwischen diesen angedichteten Unzulänglichkeiten und der effizienten Art, wie sie unter derart schwierigen Bedingungen Angelegenheiten zu regeln wussten. Um die Wahrheit zu sagen, hatten die Franzosen nicht die Disziplin und den Drill der Deutschen, aber wie in Albi deutlich zu sehen war, erreichten sie trotzdem mehr. Eine Verwaltung kümmerte sich hier vorbildlich um eine Bevölkerung, die sich in wenigen Wochen verdoppelt hatte, und tat dies ohne die anderswo obligatorische Bürokratie und ohne Verletzung der individuellen Freiheiten. Wie war das Ru are Mi | Isidor, Karoline, Nora Heller mit Karolines Bruder Armin Freudmann (rechts) in Tenero (Schweiz)